Die Welle des italienischen Kannibalenfilms zwischen 1972 und Mitte der 80er Jahre ist nur eine konsequente Weiterentwickelung von Jacopettis Mondo-Dokumentarismus ("Mondo Cane" (1962) etc.) und den seit 1968 beliebten neuen Zombiefilmen - Exotismus und spekulativer Kitzel, mit dem Tabubruch des Kannibalismus auf seinen damaligen Gipfelpunkt getrieben. Deodatos "Cannibal Holocaust" kann als qualitativer Höhepunkt dieses wüsten Mord und Totschlag Genres bezeichnet werden und bietet neben eindeutiger Exploitation auch gleich die Reflexion der perversen Schaulust, was aus ihm auch eine grimmige Satire auf skrupellosen Medienbetrieb macht. Freilich: einige seiner Vorwürfe und Kritikpunkte muss der Film auch sich selbst gefallen lassen, das bringt die Mischung aus Exploitation und Exploitation-Kritik mit sich und kann dem Film zum Vorwurf gemacht werden. Doch werden ethische Überlegungen nicht dadurch ungültig, dass der Urteilende selbst sie nicht beachtet - und so gerät "Cannibal Holocaust" zu einem durchaus nicht unbeachtlichen Genrebeitrag, wenn er sich auch inkonsequent entwickelt.
Ein Suchtrupp sucht im Amazonasgebiet nach einem verschollenen Dokumentarfilmerteam und kann nach einem abenteuerlichen Höllentrip nur noch die gefundene Kamera der Verschollenen in die Heimat zurückbringen. Dort prüfen die Auftraggeber, ob das Material sendefähig ist und werden ebenso wie die Zuschauer Zeugen von Akten der Gewalt und Gegengewalt - eine Präsentationsweise, die an die Fake-Dokus von Peter Watkins erinnert und innerhalb des Genres großen Einfluss auf "Blair Witch Project" (1999) und dessen Nachzügler hatte. Das Filmteam zeigt sich auf dem gefundenen Material von der denkbar schlechtesten Seite: Sie unterdrücken die Eingeborenen, vergewaltigen eine junge Frau, die sie hinterher auf einen Pfahl gespießt als vermeintliches Opfer kannibalistischer Riten abfilmen, unterlassen grundsätzlich jede Hilfeleistung und zünden ein ganzes Dorf an, um eine verwertbare Kriegssituation zu suggerieren. Nun lässt das, was Umberto Lenzi - der Begründer dieses Genres - ein Jahr später als "Rache der Kannibalen"(1981) ["Cannibal Ferox"] inszenieren sollte, nicht lange auf sich warten: in verwackelten, verruckelten und schmutzigen Bildern, die eine Reduzierung des Distanz des Zuschauers zum nun vermeintlich authentischen Geschehen zu erreichen trachten, wird gezeigt, wie das Team allmählich von den Unterdrückten dezimiert wird.
Deodato, der wenig später auch mit seinem "Last House on the Left" (1972) Plagiat "La Casa sperduta nel parco" (1980) einen reaktionären Stoff ablieferte, in dem ausgeübte Gewalt ebenfalls nach brutaler Gegengewalt verlangte, hat mit "Cannibal Holocaust" einen der verstörendsten Horrorfilme seiner Zeit geschaffen.
Das Filmteam, um welches es geht, erweist sich nach und nach als egoistisch und sadistisch, als karrieregeil und geldgeil. Die primitiven Gewalttaten, die sie festhalten wollen - und mit denen "Cannibal Holocaust" selbst seine Zielgruppe ins Kino lockt - erweisen sich nahezu überwiegend als Inszenierungen des vermeintlichen zivilisierten Menschen: er bringt sie hervor, er hält sie fest, er hält sie am Leben und lässt sie für seine Zwecke arbeiten Was Deodato seinerzeit vor allem als Reaktion auf die Ausschlachtung der blutigen Taten der Brigate Rosse in den Medien bezeichnete, ist keinesfalls bloß eine Kritik an einem gedankenlosen Sensationsjournalismus, sondern auch eine Kritik an der Manipulationskraft der Medien, auf eine "Strategie der Spannungen", wie sie seinerzeit in Italien zu beobachten, bisweilen bloß zu erahnen war. Dieses subversive Prinzip übernahm auch Lenzi später in "Cannibal Ferox", ebenso das Prinzip des Rape-and-Revenge-Films, dem "Cannibal Holocaust" auch einen Teil seiner unangenehmen Wirkung verdankt: der ersehnte Befreiungsschlag des Unterdrückten gerät zum bestialischen Spektakel - was man den Opfern zuvor noch über manipulative Inszenierungen an Grausamkeiten unterstellen wollte, begehen diese nun aus freien Stücken. Zynismus pur.
Damit hockt der Film irgendwo zwischen allen Stühlen: zwischen Exploitation und Kritk der Exploitation, zwischen rassistischen Klischees und ihrer kritischen Betrachtung, zwischen reaktionärer Moral und zynischer Satire - aber auch zwischen expliziter Grausamkeit und ihrer Verschleierung: Deodato setzt auf spekulative Splatterszenen, treibt diese über seine Authentifizierungsstrategien wieder an den Rand und Unkenntlichkeit, was zwischen Schaulust und selbstreflexivem Blick weder dem bloßen Splatter-Publikum, noch dem vor allem an der Satire interessierten Publikum dienlich ist. Eine Unentschiedenheit, die dem Film vielleicht ein wenig schadet, aber auch nicht ohne jeden Reiz daherkommt.
Einige überaus gelungene Bilder - etwa die gepfählte Frau, die das mörderische Kamerateam mit aufgesetzt deprimierter Mimik abfilmt[1], oder aber der makabere Totempfahl aus Totenschädeln und Kamerabruchstücken - gehören wohl zu den löblicheren Einfällen des Films, die Thematisierte Schaulust zu verbildlichen. Selbst die oft kritisierten Tiersnuffszenen - natürlich unreflektiert als bloß exploitatives Mittel eingesetzt - erhalten in diesem Zusammenhang einen gewissen Sinn, indem hier die Schaulust mit dem Wissen um den wahren Hintergrund gekreuzt wird und man als Zuschauer quasi mitschuldig wird.
Auf der anderen Seite trägt das immer platte Schauspiel der Darsteller und das in seiner Aussage oft sehr aufdringliche Drehbuch dazu bei, dass der Film immer wieder stark zurückfällt - durch den Verzicht auf die aufdringlich-banalen Dialoge und mit besseren Darstellerleistungen hätte der Film wohl eine Spur besser werden können.
Als ernstzunehmder Kommentar, als bissige, rabenschwarze Satire kann der Film trotz grandioser Momente nie so richtig überzeugen, aber als äußerst deprimierender, bewusst dreckig gehaltener Film, der nach jedem erneuten Betrachten einen ganz bitteren Nachgeschmack hinterlässt - gerade weil man als freiwilliger Zuschauer wie Deodatos selbst zum Teil einer Asubeutung wird, die der Film kritisiert, und auch, weil die wunderschöne, von Riz Ortolani komponierte Musik als Kontrast die Wirkung des Geschehens noch verstärkt - ist Deodatos Meisterstück völlig geeignet.
Schwache 7/10.
1.) Grausige Ironie: ging man seinerzeit zunächst davon aus, Deodato habe für diese Szene eine tatsächlich gepfählte Frau gefilmt - was Deodato freilich leicht widerlegen konnte -, übersah man zumeist völlig, dass die Erschießungen, die der fiktive Dokumentarfilm im Film präsentiert, durchaus real waren: sie fanden bereits in Barbet Schroeders "Idi Amin Dada" (1974) Verwendung.