Der Franzose Sylvain Desmille drehte in den Jahren 2017 und 2018 für den französisch-deutschen Fernsehsender Arte den rund 107 Minuten langen Dokumentarfilm „Lustvolle Befreiung“, der in zwei Episoden aufgeteilt 2018 erstausgestrahlt wurde. Sein Ziel war nicht weniger als ein Gesamtüberblick über die Geschichte der sexuellen Befreiung.
Ausgehend von den internationalen feministischen Demonstrationen auf Trumps Vereidigung als Präsident der USA hin eröffnet Desmille respektive die Sprecherin aus dem Off mit der Frage, wann die sexuelle Befreiung überhaupt tatsächlich begann. Originalaussagen von Historiker(inne)n, Schriftsteller(inne)n, Publizist(inn)en, Sozialpsycholog(inn)en und Künstler(inne)n zeichnen von nun die Historie der Bewegung nach und definieren den 1948 erschienen Kinsey-Report als Schlüsselmoment. Die Forschungen des US-Zoologen und -Sexualforschers Alfred Kinsey nahmen das Sexualverhalten US-amerikanischer Männer unter die Lupe, woraufhin Kinsey öffentlichkeitswirksam schlussfolgerte, die Hälfte der Bevölkerung sei bisexuell.
Illustriert von zahlreichen historischen Aufnahmen geht man über in die unmittelbare Nachkriegszeit, als beispielsweise der damals skandalöse Bikini für etwas Freizügigkeit sorgte. Auf eine Vorstellung der Beat-Generation folgt die Auseinandersetzung mit dem Antisexualterror des US-Präsidenten und paranoiden extremistischen Reaktionärs McCarthy und schließlich der Lockerung der Zensur. Kulturell widmet man sich der stilprägenden Romanverfilmung „Bonjour Tristesse“ und der auf sie folgenden Nouvelle Vague mit der damals noch progressiven Brigitte Bardot sowie Ingmar Bergmans seltsamem Skandalfilm „Das Schweigen“ – und misst dem Einfluss von Jugendkultur starke Bedeutung bei. Schweden wird in Bezug auf Homosexualität und Abtreibung als fortschrittlicher Staat genannt, an die Babyboom-Generation erinnert und sich in die Epoche der Miniröcke, langhaarigen Männer und Hippiekultur begeben, auf die unmittelbar die Antibabypille und die Studentenrevolten folgten, die gemeinhin eng mit der eigentlichen sexuellen Revolution in Verbindung gebracht werden und mit denen der erste Teil des Films inhaltlich genau 20 Jahre nach seinem Einstieg endet.
Teil 2 knüpft an den Vorgriff des ersten Teils an, indem er Bilder der sich anlässlich Trumps einjähriger Amtszeit formiert habenden Demonstrationen zeigt, um dann aber 1968 mit Hippies, der klassische Familienmodelle infrage stellenden Berliner „Kommune 1“, „freier Liebe“ und ähnlichen fragwürdigen Experimenten jener Ära wieder einzusteigen. Daraufhin jedoch entdeckt man die Thesen des Wissenschaftlers Wilhelm Reich wieder, der in seiner Abhandlung „Die Sexualität im Kulturkampf“ die Sexualität aus marxistischer Perspektive zunächst kritisch betrachtet, um dann ihr Potential für eine friedliebende Gesellschaft aufzuzeigen. Dafür strengt man Vergleiche mit China und dem ehemaligen Ostblock an. Bevor es jedoch zu speziell wird, fokussiert man sich auf die Schwulendiskriminierung und die daraus resultierende Entstehung des Christopher-Street-Days sowie das Erstarken der Proteste Homosexueller. Gesellschaftliche und rechtliche Änderungen führten zu neuen Möglichkeiten, von denen sich im Gegensatz zu den Orgasmuskursen für Frauen der Sexualkundeunterricht flächendeckend durchgesetzt hat. Schließlich brechen sich gar Sexshops und Pornografie bahn, was hier mit kritischen Worten einhergeht und innerhalb bestimmter Ausprägungen des Feminismus in „PorNO“-Kampagnen sowie neuem Moralismus mündet. Auf die kurze Thematisierung von Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern folgen kritische Äußerungen zu Männerfeindlichkeit, bevor die wahnsinnige schwulenfeindliche christliche Terroristin Anita Bryant für einen hohen Gruselfaktor sorgt und die Proteste gegen sie ebenso wenig unerwähnt bleiben wie der Mord an einer Gallionsfigur der Schwulenbewegung. Freizügige Bilder u. a. einer Schwulenparty leiten zur bedrückenden, durch das HI-Virus ausgelösten Immunschwächekrankheit Aids über, die zum vorläufigen Ende der sexuellen Revolution erklärt wird.
Gegen Ende werden einige gewagte politische Thesen aufgestellt, die man nicht teilen muss, um schließlich noch die Transgender-Debatte als ein Beispiel für aktuelle Befreiungskämpfe innerhalb des aufgeklärten Teils der Welt anzuschneiden und einen Ausblick zu wagen: Der Kampf geht auch im 21. Jahrhundert weiter, Gleichberechtigung und Freiheit sind noch längst nicht auf allen Ebenen erreicht. Unterm Strich bietet „Lustvolle Befreiung“ einen gelungenen, mit viel Bildmaterial versehenen und kompetent kommentierten Überblick, der verglichen mit anderen, kürzeren Dokumentation zum Thema 20 Jahre weiter zurückreicht und einen seriösen Eindruck hinterlässt. Als Zuschauer(in) wird man dafür sensibilisiert, wie Sexualität bzw. Sexualmoral durch verschiedene Autoritäten als Macht- und Unterdrückungsinstrumente eingesetzt wurden und wie es Stück für Stück gelang, sich ihrer zu entledigen. Zudem rückt verstärkt ins Bewusstsein, wie wenig Geschlechterrollen und -klischees in Stein gemeißelt sind, wie flüchtig moralisierende Dogmen sein können, aber durchaus auch, welche nicht immer ausschließlich positiv zu bewertenden Blüten sexuelle Freizügigkeit treiben kann und wie sehr mit sexueller Selbstbestimmung auch Eigenverantwortung, verantwortliches Handeln, einhergehen muss, um gleichberechtigte, diskriminierungsfreie Möglichkeiten des sexuellen Genusses zu schaffen und zu bewahren. „Lustvolle Befreiung“ ist somit gut als Einstieg geeignet, um bestimmte Teilaspekte aus dem Gesamtkontext zu isolieren und gezielt eingehender zu analysieren. Acht zu geben wäre dabei jedoch darauf, vermitteltes objektives historisches Wissen von den subjektiv getätigten Aussagen des Dokumentarfilms zu unterscheiden.