Review

Chroniken eines Alptraums

Paul Greengrass‘ „22 July“ behandelt zwar den gleichen Anschlag und das gleiche Thema wie Erik Poppes fast zeitgleich erschienener „Utoya, 22. Juli“, er könnte in seiner Art und Weise aber kaum unterschiedlicher sein. Doch gerade deswegen ergänzen sich beide Werke stark und beide haben ihre Daseinsberechtigung. Doch auf den interessanten Vergleich will ich gar nicht allzu ausführlich eingehen. Die Unterschiede und Stärken/Schwächen beider Filme sieht jeder mit bloßem Auge. Poppes emotionaler, extrem involvierender Thriller war für mich eine der verstörendsten, intensivsten Kinoerfahrungen überhaupt, Greengrass‘ Netflix-Drama über Anders Breiviks Anschläge, seine Opfer und seine Verhandlung, dient eher dem besseren Verständnis, der Einordnung und gleicht einer recht neutralen, lange Zeit unterkühlten Abhandlung. Gegensätzlicher könnten die Herangehensweisen und Lauflängen kaum sein. Emotionen gegen Fakten, Meinungen gegen Intensität, Brutalität gegen Kälte, Überzeugung gegen Kraft, Schock gegen schleichende Wut. Beide lohnen sich, Geschmacksache, was einem besser gefällt. Falls man das bei dem Thema überhaupt so ausdrücken kann. Ich könnte aber absolut verstehen, wenn man sagt, man braucht nicht noch einen Film darüber oder gar überhaupt keinen. Genug Gründe dagegen habe ich denke ich auch schon in meinem Review zu Poppes One-Shot-Alptraum genannt. Doch bei Greengrass‘ Beitrag liegen die Pros und Contras etwas anders verteilt.

Greengrass‘ „22 July“ geht weit über zwei Stunden und rollt die Geschehnisse linear von der Planung Breiviks bzw. dem Tag vor dem Angriff bis hin zu seinem Urteil auf. Inklusive einer ausführlicheren Sicht auf das Schicksal eines schwer verletzten Opfers und mit klarer Kante gegen Rechtsextremismus und solche Psychopathen wie Breivik. Armes Schwein hätte ich fast geschrieben, aber obwohl Gründe und Kindheit und krankes Gedankengut aufgezeigt/angedeutet werden, weckt der Film (zum Glück) nie Mitleid oder gar Verständnis. Ganz im Gegenteil. Er setzt den starken Opfern und Überlebenden ein Denkmal, gegen das all der Hass und die Vorurteile und Bosheit Breiviks keinen Stich sehen. Er hat verloren, in seiner Sache sowie im Privaten, er hat keinen mehr und hatte wohl auch noch nie jemanden. Weil er ein ekelhaftes Schwein ist. Vor allem wenn die eigentliche Hauptfigur, der Held, der fünfmal angeschossene Viljar, im Gerichtssaal mutig dem Attentäter und seinem schlimmsten Alptraum entgegentritt und all das Gute vertritt, für die unsere offene, multikulturelle Gesellschaft steht, noch immer, für immer und trotz allem Gegenwind, dann geht das durchaus unter die Haut und bleibt dort. Vor allem durch starke Jungdarsteller. Und auch Breivik wird heftig gut gespielt, was man auch erstmal so durchziehen und sich trauen muss. Und bei diesem Film hat der unmenschliche Breivik, sollte er ihn irgendwann doch mal in seiner Zelle zu Gesicht bekommen, danach sicher kein Lächeln im Gesicht. Oder zumindest nur ein sehr oberflächliches und vielleicht doch etwas nachdenkliches. Ein Verdienst von Greengrass, den „Utoya, 22. Juli“ so nicht unbedingt von sich behaupten kann.

Fazit: nicht so intensiv und packend wie der „Konkurrenzfilm“, trifft hier Greengrass sicher nicht nur richtige Entscheidungen und wird dem heiklen Thema nicht immer gerecht. Doch im Großen und Ganzen dennoch interessant, emotional, schockierend und Gesprächsstoff liefernd. Eine kraftvolle Ansage an den Terror und das Böse in der Welt.

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