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1944 drehte Alfred Hitchocock den vielleicht außergewöhnlichsten Film seiner Karriere. Tatsächlich nimmt „Das Rettungsboot“ nicht nur innerhalb von Hitchcocks Oeuvre eine ganz besondere Stellung ein, denn er erschuf einen der effektivsten Filme der Filmgeschichte. Sein Ziel war es, einen Film zu drehen, dessen Handlung sich an einem einzigen, zudem höchst begrenzten Set abspielt. Hitchcock liebte solche filmischen Herausforderungen. So drehte er im Jahre 1944 einen hochgradig aktuellen Kriegsfilm, der sich sich von den übrigen Filmen dieses Genres abhob, da er sich einer völlig anderen Perspektive widmete und zudem fast ganz ohne die Darstellung von Kriegsszenen auskam.

Für viele Regisseure ist es die Königsdisziplin, einen Film an einem einzigen Set zu drehen. So sprach Quentin Tarantino in Interviews schon davon, dass es sein Traum sei, einen Film zu drehen, der die ganze Zeit innerhalb einer Telefonzelle spielt und dennoch spannend bleibt. Neuere Versuche, wie z.B. „Nicht auflegen“ spielen mit diesem Motiv, schaffen es aber nicht, sich wirklich auf dieses eine Set zu begrenzen. Hitchcock wählte für seinen Film die Isolation eines Rettungsbootes auf dem Ozean und läßt die ganze Handlung darauf abspielen. Dass das Resultat ein großes Meisterstück geworden ist, lässt sich an der Tatsache erkennen, dass der Film nicht eine Minute langweilt und zudem Einiges an suspense aufkommen lässt, die Zutat, die Hitchcock ja immer so wichtig war.

Dabei ist die Ausgangsidee so einfach, wie genial. In der Geschichte, die von Literaturnobelpreisträger John Steinbeck erdacht wurde, geht es um 9 Überlebende eines gesunkenen amerikanischen Frachters im Zweiten Weltkrieg. Diese durch das Schicksal zusammengewürfelte Besatzung ist zudem höchst unterschiedlich. So prallen unterschiedliche Charaktere aufeinander, die sich im Leben sonst nicht über den Weg gelaufen wären. Da wären zum Beispiel ein reicher Industrieller, eine versnobte Reporterin oder ein Seemann mit kommunistischen Tendenzen. Richtig brisant wird die ganze Sache, als auch der Kapitän des deutschen U-Bootes, das das amerikanische Frachtschiff versenkt hat, Asyl auf dem Rettungsboot findet. Mit dieser Zutat erzeugt Hitchcock seine suspense. Fortan entwickelt sich auf dem Boot ein Nervenkrieg, in dem nicht jeder das ist, was er zu sein scheint. Zudem erschafft „Das Rettungsboot“ für die damalige Zeit eine politisch hochbrisante Mischung, indem er die verschiedenen Strömungen des Nationalsozialismus, Kommunismus und Kapitalismus in ein Boot verpflanzt. Eine wichtige Aussage liegt auf der Hand: Wenn man die richtige Perspektive und Sichtweise auf die Welt hat, sitzen alle in einem Boot. Und tatsächlich: Als alle an Bord befindlichen Parteien zusammenarbeiten (zumindest zeitweise) scheint sich die Lage zu verbessern. Für 1944 ist eine solche Aussage mehr als brisant, da gerade der Nationalsozialismus und der Kommunismus (die große Kommunistenhatz stand Amerika zu diesem Zeitpunkt freilich noch bevor) die größten „Feinde“ des damaligen Amerikas waren.

Trotz (oder auch gerade wegen) der selbst auferlegten Begrenzung der Handlung auf einen engen Schauplatz, weiß das Werk auch heutzutage noch zu faszinieren. Dies liegt zum Einen an den herausragenden, wie tendenziell unbekannten Darstellern, die ihre Rollen sehr überzeugend mit Leben füllen und auf ihre eigenen Arten mit der Streßsituation umgehen. Die daraus entstehenden Konstellationen fesseln den Zuschauer auf Dauer, auch wenn es wenig physische Action zu sehen gibt. Hervorzuheben aus der insgesamt sehr guten Besetzung ist Tallulah Bankhead, die eine leicht hochnäsige, unabhängige und starke Reporterin spielt. Gerade das letztgenannte Attribut ist für die Entstehungszeit und vor allem für das Genre des Kriegsfilmes ein absolutes Novum. Ihre Figur ist faszinierend, verführerisch (selbst in einer solchen Situation) und behält in fast allen Situationen eine klaren Kopf. Insofern ist sie die heimliche Anführerin der Besatzung und auch die größte Identifikationsfigur des Filmes. Dies ist für die damalige Zeit, aber gerade im Hitchchock’schen Oeuvre eine Besonderheit, denn nicht selten waren die Frauen in seinen Filmen nicht mehr als schmückendes Beiwerk oder Opfer.

Die andere Zutat, die aus dieser eingeschränkten Ausgangslage einen großen Film macht, ist das großartige Drehbuch mit seinen fesselnden Dialogen. Neben der Gefahr, die von dem geheimnisvollen Deutschen innerhalb des Bootes ausgeht, sind die Gefahren dieser Zeit naturgemäß außerhalb des Bootes zu finden. Dies bedeutet, dass die Dialoge fehlende Aktionen auf dem Boot kompensieren müssen. Dies gelingt ausgezeichnet und zu jeder Zeit. Zum Einen lernt man die Charaktere besser kennen und erfährt zum Anderen viel aus der damaligen Zeit und die Kriegsgeschichte der Protagonisten. So wie sich die Charaktere auf dem Boot erst kennenlernen müssen, lernt der Zuschauer sie gleichzeitig kennen. Diese Prämisse, in der kein Leinwandprotagonist einen Informationsvorsprung vor dem Zuschauer hat, ist heikel, da stets die Gefahr der Informationsüberflutung oder eben der fehlenden Tiefe der Charaktere droht. „Das Rettungsboot“ umschifft beide gekonnt. Wenn dann am Ende des Filmes tatsächlich noch etwas Action aufkommt, benötigt man diese fast gar nicht. Zu diesem Zeitpunkt ist man als Zuschauer mitten in dem Ensemble und von der Handlung fasziniert. Trotzdem sind diese Actionszenen für die damalige Zeit durchaus überzeugend und eben auch effektiv inszeniert.

„Das Rettungsboot“ ist eines von Hitchcocks besten Werken. Umso mehr verwundert es, dass der Film zu seinen unbeachtetsten gehört. Dies liegt vielleicht an der Kriegsthematik oder auch an der überaus spektakulären Boots-Prämisse, die sich für die breite Masse eben zu unspektakulär anhört. Dennoch kann man den Film eben jedem empfehlen, der dramatisches und spannendes Kino mag. „Cocktail für eine Leiche“, der eine ähnliche allerdings etwas anders gelagerte Ausgangslage hatte (der Film spielt nur in einem Appartement und hat keinen sichtbaren Filmschnitt), ist wesentlich bekannter, als „Das Rettungsboot“. In diesem Film ging es allerdings auch um eines von Hitchcocks Paradethemen: Mord. Vergleicht man „Das Rettungsboot“ allerdings mit seinem Spionagethriller „Topas“, so fällt auf, dass trotz der beschränkten Bühne „Das Rettungsboot“ wesentlich spannender ist, als der etwas dröge „Topas“, der wesentlich aufwändiger inszeniert ist. „Das Rettungsboot“ ist empfehlens- und sehenswert, weil es eben kein typischer Hitchcock ist, aber dabei überaus gelungen ist. Insofern ist „Das Rettungsboot“ Kino in seiner reinsten Form und kann daher jedem Filmfreund nur wärmstens ans Herz gelegt werden.

Fazit:

9 / 10

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