Schon mit Werken wie dem Crime-Thriller „Der wilde Schlag meines Herzens“ oder dem Gefängnisdrama „Ein Prophet“ hatte Jacques Audiard die (eh künstlich gezogenen) Grenzen zwischen Genre- und Autorenkino verwischt. In „The Sisters Brothers“ nimmt er sich den Western vor.
Dass Audiard nicht unbedingt Wert auf klassische Western-Schauwerte legt, beweist bereits die Eingangssequenz, die gleichzeitig die titelgebenden Brüder, Charlie (Joaquin Phoenix) und Eli Sisters (John C. Reilly), vorstellt. Die arbeiten als Kopfgeldjäger für den reichen Kommodore (Rutger Hauer) und stellen in der Eingangssequenz ein Ziel und dessen Bewacher. Doch von der Schießerei ist nicht viel zu sehen, auf Action ist Audiard nicht aus, wenn das Mündungsfeuer die Nacht erhellt und diese kurzen Lichtblitze nur grob erkennen lassen, was gerade geschieht. Er macht dennoch deutlich, dass Charlie und Eli ihren Ruf nicht zu Unrecht genießen, denn am Ende sind die Zielperson und mehrere andere Männer tot, während die gefürchteten Bounty Hunter die Last Men Standing sind.
Vom Kommodore kommt bald der nächste Auftrag: Charlie und Eli sollen den Chemiker Herrmann Kermit Warm (Riz Ahmed) beseitigen, den ihr Auftraggeber von dem Detektiv John Morris (Jake Gyllenhaal) beschatten lässt. Charlie und Eli folgen ihnen, um den Auftrag endgültig zu vollstrecken…
Audiard lässt typische Westernmomente nicht aus, bedient immer mal wieder Genreerwartungen. Da gibt es den Saloon-Besuch mit Trinkgelage und Nutten, da gibt es die Halsabschneider, die den Fehler machen die Sisters-Brüder betuppen zu wollen (im Regelfall der letzte Fehler ihres Lebens), und da gibt es auch die eine oder andere Schießerei. Letztere setzen aber oft auf Desorientierung statt auf Action, zeigen eher die Unübersichtlichkeit des Kampfgetümmels als große Schauwerte, auch wenn die eine oder andere Härte zu sehen ist, welche die deutsche FSK-12-Freigabe großzügig erscheinen lässt. Die Revolvermänner erinnern dabei nicht an die guten Jungs klassischer US-Western, sondern eher an die moralisch fragwürdigen (Anti-)Helden von Italo- und Spätwestern: Niedergestreckten Gegnern wird zur Sicherheit noch einmal in den Kopf geschossen und im Kampf ist jede List erlaubt, etwa indem man sich mit der Fellmütze eines Toten als Kumpan der Gegner ausgibt.
Doch trotz solcher Momente geht es Audiard vor allem um den Kontrast von vier verschiedenen Männlichkeitsentwürfen und um das Verständnis von Männlichkeit. Sowohl die Sisters-Brüder als auch Morris hadern mit dem Erbe der Väter (letzterer sogar im wortwörtlichen Sinne), doch jeder geht anders damit um. Charlie glaubt an Determination, daran, dass Gewalttätigkeit im Blut liegt, und lebt dementsprechend als brutaler Säufer, der gar kein anderes Leben sucht als das, das er führt. Sein älterer Bruder Eli dagegen ist der besonnenere der beiden, träumt vom Ausstieg und der Ehe mit einer Frau, auch wenn er nicht genau weiß, wie er in der Zivilgesellschaft funktionieren soll. Morris dagegen schreibt poetische Texte in Tagebuch und Telegramme, ist eine Mischung aus Feingeist und zupackendem Detektiv, aber mit einem offenen Ohr gesegnet. Warm als vierter im Bunde hat nicht nur eine Formel für effektiveres Goldschürfen entwickelt, sondern tüftelt auch an einem Gesellschaftsmodell jenseits der Zwänge von Kapital und Eigentum. Über die Figuren treten diese Männlichkeitsentwürfe in den Dialog und finden teilweise überraschende Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Dabei besitzt der Film eine unterschwellige Komik, gerade in der Interaktion der grundverschiedenen Figuren, die aber drastisch ins Dramatische und Brutale umschlagen kann.
„The Sisters Brothers“ ist ein ambitioniertes Projekt, basierend auf einem Roman von Patrick DeWitt, dessen Rechte John C. Reilly erwarb, der wiederum Audiard als Regisseur für das Projekt gewann. Reilly spielt dann auch groß auf als Mann der Gewalt, der ahnt, dass es ein anderes Leben gibt, aber nicht so genau weiß, wie er es führen soll. An seiner Seite finden sich mit Joaquin Phoenix und Jake Gyllenhaal gleich zwei Top-Schauspieler, die für ihre umsichtige Rollenwahl bekannt sind. Phoenix‘ Figur mag die einfachere sein, der Brutalo, der gar nicht verstehen kann, dass Eli etwas anderes tun will, der von seinen Impulsen und nicht immer guten Schnellschuss-Ideen getrieben wird, aber Phoenix spielt das Ganze bestechend. Gyllenhaal ist ebenfalls ziemlich gut, allerdings ist seine Figur im Männerquartett jene, die am kürzesten kommt. Mehr Raum bekommt Riz Ahmed, dessen idealistischer Chemiker eine warmherzige Gestalt ist. Jemand, der andere zu begeistern weiß, dessen intellektuelle Fähigkeiten im Wilden Westen aber oft weniger gefragt sind als hartes Durchgreifen, jemand der offenherzig ist, aber nicht grenzenlos naiv. Die vier spielen sich die Bälle zu, während der Rest der Darsteller bloß Hintergrundrauschen bleibt – selbst Rutger Hauer hat nur zwei Szenen, in denen er keinen (hörbaren) Satz spricht. Eine Art bessere Cameo, wie er ihn zuvor auch in „Valerian“, „24 Hours to Live“ und „Corbin Nash“ hatte.
Audiard und sein Kameramann Benoît Debie statten dieses Männerdrama mit schönen Bildern aus, fangen Naturpanoramen von Wäldern und Goldschürfer-Flüssen ein. Doch so edel „The Sisters Brothers“ auch aussehen mag – so ganz satt macht er nicht. Denn Audiard, der auch das Drehbuch zusammen mit Thomas Bidegain schrieb, lässt Vieles nur im Ungefähren. Man erfährt nicht, was Morris‘ Problem mit seinem Vater ist, von Gevatter Sisters hört man nur, dass dieser ein Trinker und ein Schläger war, der auch vor der eigenen Familie nicht haltmachte, aber eine Andeutung, dass er auch ein Serienmörder gewesen sein könnte, bleibt ohne Ausarbeitung im Raum stehen. Sicher muss ein Film nicht jedes Detail erklären, doch „The Sisters Brothers“ wirft diese Fragen bewusst auf, macht sie zu wichtigen Facetten seiner Hauptfiguren ohne sie auszuleuchten, womit leider alle Charaktere doch weniger Tiefe erlangen als gedacht. Und das ist nun einmal ein großer Knackpunkt, wenn man einen Western als persönliches Drama erzählen möchte.
So hinterlässt „The Sisters Brothers“ einen etwas zwiespältigen Eindruck: Ein tolles Hauptdarstellerquartett, eine versierte Regie und die Erkundung verschiedener Männlichkeitsentwürfe im Westerngewand stehen dem Eindruck gegenüber, dass Audiard sich vor der komplett runden Charakterisierung seiner Protagonisten drückt, dass er wichtige Details in ungefähren Andeutungen erlässt, sodass man manchmal nicht zum Kern der Hauptfiguren vorstoßen kann. Und das wäre vonnöten gewesen.