Review

Frei im Wind, was für ein Kind

Joel Edgerton ist ein guter Schauspieler. Aber er ist ein sehr guter Regisseur. Spätestens mit „Boy Erased“ sollte das klar sein, wenn sein Spitzenthriller „The Gift“ vor ein paar Jahren schon untergegangen ist und noch immer maximal als Geheimtipp gilt. Sein neuestes Werk ist genauso spannend und beklemmend, nur auf eine komplett andere Weise. Erzählt wird (basierend auf einer echten Geschichte) von einem schwulen jungen Mann, der von seinen streng gläubigen Eltern in eine Art Umerziehungssekte gesteckt wird, wo versucht wird, ihm seine Homosexualität auszutreiben. Und das ist für jeden einigermaßen modern und liebevoll denkenden Menschen, sehr schwer anzusehen. Man kann nur den Hut ziehen, wie der Teenager damit umgegangen ist, wie stark er diese psychologische Tortur durchgestanden hat und was für ein herausragendes, wegweisendes Vorbild er nun für mit sich und ihrer Umwelt kämpfende Männer ist!

„Boy Erased“ ist kein Film, wo ich sage „Den muss ich auf Blu-ray haben!“. Aber dennoch könnte ich kaum dankbarer sein ihn einmal, sogar im Kino, gesehen zu haben. Er ist ruhig, realistisch, ehrlich. Nie effekthascherisch und fast schon unspektakulär (bis auf den etwas aggressiven Score und Soundtrack). Und genau das hebt ihn hervor. Er spricht mit den „Homo-Austreibungszentren“ ein schockierendes, leider noch immer aktuelles Thema an, bei dem man kaum glauben kann, dass es noch akut und erlaubt ist. Ist aber leider in etlichen US-Staaten wirklich noch Gang und Gebe. Unfassbar. Lukas Hedges ist geboren für solche tiefdramatischen Rollen, jedem war schon bei „Manchester By The See“ klar, dass dieser Junge eine große Zukunft vor sich hat. Hier unterstreicht er dies nochmal fett. Außerdem liefern Crowe und Kidman zwei der besten Performances ihrer Karrieren ab - was bei diesen schauspielerischen Schwergewichten definitiv was heißen will. Crowes Augen sprechen Bände, Kidmans Wandlungsfähigkeit ist sagenhaft und ihre Entwicklung in diesem Film ist es auch. Toll ist ebenfalls, dass die beiden nicht, wie zuerst von mir vermutet, als die Bösewichte dargestellt werden. Jede Figur hat Probleme, Hintergründe, Entwicklungen, Erkenntnisse, wird mit Respekt behandelt, voller Grautöne und fühlbar echt. Noch eine Auszeichnung des Regisseurs und Drehbuchschreibers. Edgerton ist the man. Und „Boy Erased“ hätte niemals im Oscarrennen untergehen dürfen. Vor allem bei den Darstellern nicht. Ein wuchtiger, kraftvoller Film voller Güte und vollkommen auf dem richtigen Weg. Und jetzt will ich unbedingt „The Miseducation of Cameron Post“ gucken, der sich mit denselben Thema beschäftigt.

Fazit: „Boy Erased“ ist ein emotionales Kraftpaket voller ruhiger Töne und ohne hollywoodtypschischen Kitsch. Schwer zu ertragen aber sehr lohnenswert. Harter Tobak aber sehr wichtig. Macht keinen Spaß aber berührt einen sehr tief. Muss man nicht nochmal sehen, hinterlässt durch einmal gucken aber tiefere Spuren als die meisten anderen Filme nach etlichen Durchläufen. Intensiv und beispielhaft.

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