„Das ist die Logik des Geschäfts: Es muss immer aufwärts gehen.“
Anlässlich der Herrenfußballweltmeisterschaft 2018 in Russland produzierte die ARD unter der Regie Gerhard Schicks („Das Monster in uns - Stuart Gordon und Brian Yuzna über den Horrorfilm“) den abendfüllenden Dokumentarfilm „Die Nummer Eins – Deutschlands große Torhüter“, die am 22. Juni 2018 erstausgestrahlt wurde und sich wohltuend von anderen Sportdokus abhebt.
Der Film beschränkt sich auf fünf Torhüter: Sepp Maier, Toni Schumacher, Oliver Kahn, Jens Lehmann und, als einzigem zum Drehzeitpunkt noch aktivem, Manuel Neuer. Deren Erfolge und auch Misserfolge lässt man Revue passieren, aber auch auf persönlicher, psychologischer Ebene von Ehrgeiz, Konkurrenz- und Leistungsdruck sowie den Umgang damit berichten – einem Druck, dem nicht jeder standhält. Der ehemalige Nationaltorhüter Robert Enke zerbrach daran und nahm sich 2009 das Leben. Seine Witwe Teresa Enke äußert sich ausführlich zur Karriere ihres Mannes und zu seiner Erkrankung, die tragisch endete. Schauspieler Peter Lohmeyer („Das Wunder von Bern“) kommentiert zudem diverse Einspielungen von Originalaufnahmen historischer Partien.
Natürlich, bestimmte Ereignisse, Bilder und Anekdoten dürfen in einem solchen Film nicht fehlen: Der nach einer Ente hechtende Sepp Maier, der 1974 mit einer Mannschaft im eigenen Land Weltmeister wurde, die rauchte und soff, statt jede Körperzelle durchzuoptimieren. Toni Schumacher, der im Spiel den Franzosen Battiston schwer verletzte, damit für die Gegner zum Hassobjekt und „hässlichen Deutschen“ wurde und später mit seinem Enthüllungsbuch „Anpfiff“ seine eigene Karriere besiegelte. Oliver Kahn, dem auf dem Platz häufiger die Synapsen durchbrannten und der zu Aggressionsausbrüchen neigte, aber auch selbst zum Opfer von Aggressionen wurde, wenn ihn beispielsweise ein aus den Zuschauerrängen geworfener Golfball am Kopf traf, der 2002 im WM-Finale gegen Brasilien einen eventuell haltbaren Schuss leider nicht parierte und der 2006 unter Klinsmann im mannschaftsinternen Torhüter-Duell Jens Lehmann unterlag, sich aber dennoch ganz in den Dienst der Mannschaft stellte. Jens Lehmann, der 2006 im Viertelfinale fürs Elfmeterschießen gegen Argentinien entscheidende Tipps von Kahn bekam und einen Spickzettel aus dem Stutzen zog – und zum Elfmeterhelden wurde. Und natürlich Manuel Neuer, der unter Tränen vom geliebten FC Schalke zu Bayern München wechselte, dort von den Fans zunächst nicht akzeptiert, aber 2014 Weltmeister und schließlich Welttorhüter wurde.
So weit, so erwartungsgemäß. Natürlich hätte man als Fußball-Fan oder zumindest -Interessierter gern auch Persönlichkeiten wie Toni Turek, meinen persönlichen Helden Bodo Illgner (beide Weltmeister) und Andreas Köpke (Europameister) gesehen, deren Abwesenheit irritiert und den Film unvollständig erscheinen lässt. Der Grund für ihr Fehlen bleibt unbekannt, möglicherweise standen sie Schick schlicht nicht zur Verfügung.
Was diesen Film jedoch zu etwas Besonderem macht, ist seine – für dieses Format – relativ tiefschürfende Auseinandersetzung mit den Schattenseiten der Position, des Sports, des Geschäfts: Der Torhüter ist in der Regel derjenige Spieler auf dem Platz, dessen individuelle Fehler am meisten auffallen – und spielentscheidend sind, während er zugleich lediglich bedingt auf das Platzgeschehen, das Spiel seiner Mannschaft, einwirken kann. Zudem sieht er sich einer permanenten Konkurrenzsituation durch die „Nummer Zwei“ im Tor ausgesetzt, die meist nur wenige Einsätze hat, jedoch mit den Hufen scharrt und darauf lauert, die nominelle Nummer Eins von ihrer Position zu verdrängen. Damit einher geht ein unheimlicher psychischer Druck, den zu bewältigen gute Kondition und spielerisches Talent nicht ausreichen. Da braucht es Härte gegen sich selbst, Nerven aus Stahl und viel mentales Training, was jedoch auch nicht in allen Situationen hilft. Manch einer wächst daran, andere zerbrechen, wie u.a. ein sehr reflektiert auftretender Oliver Kahn sich zu veranschaulichen bemüht.
Wie also geht man mit dem Druck um? Wie mit Anfeindungen von außen oder auch aus dem eigenen Verein? Und wie mit eigenen Fehlern, die schlimmstenfalls die gesamte Fußballnation diskutiert und evtl. gegen einen aufbringt? Mit diesen Fragen setzen sich die Persönlichkeiten aus Schicks Film auseinander und sensibilisieren für die mit ihnen verbundenen Belastungen und Folgen. Besonders bemerkens- und dankenswert ist die Tatsache, dass es Schick gelang, Teresa Enke für seinen Film zu gewinnen, die sehr gefasst und nachvollziehbar den Zusammenhang von Profisport, Druck, psychischen Problemen und der heimtückischen Krankheit Depression am tragischen Beispiel ihres Mannes Robert Enke aufzeigt.
Dennoch ist diese Doku weit davon entfernt, eine Jammer- oder Selbstbeweihräucherungsrunde hochdotierter Millionäre zu sein. Alle Beteiligten scheinen verantwortungs- und respektvoll mit diesem Format umzugehen und den ihnen frei von Außenperspektiven oder (in der endgültigen Schnittfassung) hörbaren Interview-Fragen offerierten Raum für persönliche Kommentare zu verschiedenen Karrierestationen bis hin zu intimeren Einblicken in ihre Psyche im Publikumsinteresse zu nutzen. Somit ist „Die Nummer Eins – Deutschlands große Torhüter“ eine gelungene Mischung aus emotionaler Fußballgeschichte und tieferem Einblick in das selbstgewählte Los der Schlussmänner, die größeres Verständnis zu generieren vermag und spannend genug erzählt ist, um auch ein fußballuninteressiertes Publikum anzusprechen.