Was man Scorsese bei diesem Film schnell vorgeworfen hat: Dass er sich selbst wiederholt hätte.
Wie ein Terrier beißt sich der Mann an seiner Stadt fest, an New York; nicht an dem, das Frank Sinatra besingt, sondern an den inneren Organen, wo seit seiner Entstehung unaufhörlich die Krebszellen fressen. Und dennoch ist die Freiheitsstatue eine eiserne Schönheit, man sieht ihr nichts von den Schmerzen unter ihrer Toga an. Den Regisseur, der in Little Italy aufwuchs und dadurch entscheidend in seinem filmischen Schaffen beeinflusst wurde, verbindet eine Hassliebe zu der schönen Anonymen, in der man sein Leben verbringen kann, ohne sie jemals wirklich kennenzulernen.
Die hektische Begleitung eines Notarztes durch die tiefschwarze Nacht ist eine unübersehbare Rückbesinnung an alte Zeiten, als Travis Bickle in seinem Taxi auf Tour ging. Paul Schraders erneutes Mitwirken als Drehbuchautor nach “Taxi Driver”, “Wie ein wilder Stier” und “Die letzte Versuchung Christi” macht sich bemerkbar. Scorsese selbst scheint zu wissen, dass er sich damit theoretisch immer wieder neu den Messern der Kritik ausliefert, denn einmal erwähnte er, dass er oft glaube, immer wieder den gleichen Film zu drehen und dass er sich manchmal frage, warum niemand bemerkt, dass er mal wieder exakt die gleiche Einstellung zum x-ten Mal verwendet.
Doch die Presse, sonst jede sich bietende Gelegenheit zum saftigen Verriss ergreifend wie der Geier das im Sturzflug erspähte Aas, hält sich im Fall Scorsese stets aufs Neue erstaunlich stark zurück - eine Erfahrung, die man zuletzt beim “Infernal Affairs”-Remake machen konnte (Infernal...what?). Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zur Oscar-Tragödie, die Marty alle Jahre wieder erdulden musste. In diesem Fall könnten die Kredite in Zukunft aufgebraucht sein - Oscar erhalten, Schutzpatronage vorüber.
Doch so konnte Scorsese sich bislang mit voller Hingabe New York widmen, es beleuchten, auskundschaften, analysieren, durch die Augen unzähliger Menschen, stellvertretend für das Subjektive, das er selbst als Kind mit eigenen Augen erfahren hatte.
Nicolas Cage ist als desillusionierter Krankenwagenfahrer das Medium in “Bringing Out The Dead”, zu Anfang noch ein Objektiv, das dem Zuschauer seine Augen leiht. Egoperspektiven von der Fahrt durch die blauroten, von den Sirenen beleuchteten Hintergassen New Yorks wechseln sich ab mit Close Ups von Cages triumphal gesteuerter Mimik, die ein Gefühl davon vermittelt, dass sich Cages Figur irgendwo auf der Schwelle befindet zwischen dem idealistischen Greenhorn und dem alten Hasen, der die Hoffnung verloren hat - und die folgenden Nächte werden das Zünglein an der Waage sein.
Eine ganz starke Leistung vom Coppola-Neffen, der sich - anders als etwa bei der schwachen Leistung im gleichen Jahr im Snuff-Thriller “8mm” - nicht im Overacting verliert bei dem Versuch, einen bestürzten und von der Welt angeekelten Mann zu spielen, sondern statt dessen immer im Zwielicht bleibt und mit sich selbst ringt. Dem Zuschauer bietet er damit ein Rätselraten um den kathartischen Ausgang der Geschichte. Dank Cage wird dem Ende nicht vorgegriffen; er füllt die Figur mit so viel menschlicher Unberechenbarkeit, dass nie so ganz absehbar wird, wohin die Reise führt.
Damit wird ein Kritikpunkt unschädlich gemacht oder zumindest abgeschwächt, der schon “Hexenkessel”, den Archetypen aus Scorseses New York-Reihe, als vollwertiges Werk disqualifizierte: das mehr oder minder unkontrollierte Dahingleiten durch die reine Atmosphäre. Und das sollte zweieinhalb Jahrzehnte später normalerweise nicht mehr geschehen. Doch man könnte es der 1999er-Arbeit vorhalten, dass sie über weite Teile ziellos ein Ereignis ans nächste setzt. Damit wird sie zwar dem hektischen Berufsleben eines Notarztes mit Nachteinsatz gerecht. Überhaupt wird die gleitende Hektik wunderschön eingefangen durch den fast poetischen Farbentanz verwaschener Lichterketten aus der glitzernden Stadt. Doch zu viele Einsätze laufen ins Leere und hinterlassen nichts als ebendiese, sind für Cages Charakter allerhöchstens kumulativ von Bedeutung. Das Konzept mit den wechselnden Beifahrern (zuerst John Goodman, dann Ving Rhames und zuletzt Tom Sizemore) geht noch auf, doch die sich entwickelnde Beziehung zu Patricia Arquette ist einer dieser Punkte, die nicht so recht funktionieren mögen. Zwar bildet sie einen menschlichen Anker, der Cages Beteiligung an dem Geschehen geradezu herausfordert und ihn dazu zwingt, aktiv Stellung zu beziehen, doch für sich genommen bleibt die Beziehung zwischen dem Notarzt und der Tochter eines Patienten unfruchtbar.
Die dringendste Frage stellt sich aber im Vergleich der Rollen, die einst Robert de Niro und nun Nicolas Cage spiel(t)en: Ist “Bringing Out The Dead” wirklich nichts weiter als die Übertragung von “Taxi Driver” ins Krankenhausmilieu? Der Blick auf die Stadt ist absolut identisch, die Erkenntnisse beider Figuren gleichen sich im Ansatz ebenfalls bis aufs Haar: Nutten, die man nicht mehr von Fußgängerinnen unterscheiden kann, verrückte alte Männer, die sich jede Nacht vollaufen lassen und einscheißen, bis der Krankenwagen kommen muss, Schwarze, die sich mitten auf der Straße gegenseitig niederschießen und Psychisch Kranke, die in den Gassen abhängen und Autoscheiben einschlagen, weil selbst die Gefängnisse und Anstalten sie nicht haben wollen. Wir stellen objektiv fest: Die Welt ist in dieser Hemisphäre ein hoffnungsloser Sündenpfuhl.
Doch im Gegensatz zu Travis Bickle sträubt sich der Sanitäter dagegen, etwas zu unternehmen. Bickle war ein Einzelgänger, der sich selbst aufstachelte - er agierte im Angesicht seiner Umwelt. Frank hingegen reagiert, weil er von seiner Umwelt nicht in Ruhe gelassen wird - sie brüllt ihn voll mit Signalen, zwingt ihn zum Handeln, während er, tiefschwarze Ringe unter den Augen, einfach nur schlafen will. Doch der Peeper meldet sich zu Wort, die Kollegen sind voller Ehrgeiz, der Chef sträubt sich gegen eine Entlassung Franks... es ist nicht seine Entscheidung.
Hieraus schöpft Scorsese einen unersetzlichen Mehrwert gegenüber seinem wichtigen Frühwerk. Die Aussage, obwohl im Ansatz identisch, nimmt durch die Passivität der Hauptfigur eine ganz andere Wende, zuletzt einen anderen Ausgang, vermittelt schließlich gar eine andere Perspektive.
Schließlich ist “Bringing Out The Dead” rein handwerklich selbstverständlich absolute Klasse. Tolle Bilder, mitreißend und schnell, aber gleichzeitig intensiv wie kein zweiter, unterstützt von einem mitreißenden Soundtrack in den richtigen Momenten. Visuell ein weiteres Meisterstück, das sich vor nichts und niemandem verstecken muss. Manchmal vergreift sich Scorsese jedoch im Ton seiner Arbeit und büßt die turmhoch aufgestockte Intensität in Teilen wieder ein. Einmal gar packt er eine Szene aus, die normalerweise einem Horrorfilm entstammen würde; auch die bebilderten Drogentrips sind nicht ganz so wirkungsvoll, wie sie sein sollten, und die Idee, die Geister tatsächlich auf die Leinwand zu bringen, die Frank zu sehen glaubt, muss man auch nicht mit Begeisterung aufnehmen. Dafür funktionieren jedoch die Szenen mit Humor, ausgehend von Franks Partnern und seinem Chef. Sie lockern das Geschehen zum einen auf, zum anderen geben sie dem Moloch New York jedoch auch eine differenziertere Seite. Ein Strahl Hoffnung auf Menschlichkeit, die das schwarze Dickicht durchbohrt wie der Lichtstrahl einer Taschenlampe die Nacht.
Grundsätzlich kann man “Bringing Out The Dead” willig über sich ergehen lassen wie ein gewaltiger Sturm, der mit Getöse über einen hinwegrollt. Die gebotene Perspektive fasziniert bis ins Mark und Bein, es handelt sich um ein absolut dichtes Werk voller Atmosphäre, das gleichermaßen anklagt wie Verständnis zeigt und die Stadt gnadenlos aufdeckt mit all ihren dunklen Seiten, die so alt sein müssen wie der Urschlamm, aus dem sich Amerika formte (ein Thema, dessen sich Scorsese gleich als nächstes mit “Gangs of New York” annahm). Seine unzweifelhaften Schwächen hütet er wie ein Geheimnis, dem man eigentlich nicht einmal unbedingt auf den Grund gehen will - jedoch erklärt das nicht, wieso er in Martin Scorseses Filmografie derart unbeachtet blieb. Insofern doch ein unter Wert verkauftes Stück Filmgeschichte, von dem man allerdings das Gegenteil behaupten müsste, würde es umjubelt werden wie “Taxi Driver”.
7.5/10