Der zeitlose und deswegen ewig zitierte und diskutierte „Unsichtbare Dritte“. Wie etwa eine Handvoll weiterer Hitchcock-Filme ist er ein Phänomen der Filmgeschichte, das wohl bis in die Endzeit hinein andauern dürfte und dem bis dahin wohl munter weiterhin semantische Bausteine angesetzt werden. Und wieso auch nicht, denn Hitchcocks 1959er-Werk ist eine wahre Offenbarung, eine umfassende Demonstration der Omnipotenz, ein Knotenpunkt der Filmhistorie und die Quintessenz von Hitchcocks gesamtem Schaffen.
Von Perfektion kann dabei nicht einmal die Rede sein, denn weder Ernest Lehmanns Drehbuch noch die von Hitchcock umgesetzten Bilder sind über die kompletten 131 Minuten hinaus vollkommen. Tatsächlich gibt sich die Herleitung des Plots sogar etwas infantil und naiv: ursprünglich hatten Lehmann und Hitchcock ein anderes Projekt im Auge, von dem Lehmann jedoch wegen diverser Schwierigkeiten am Drehbuch abtrat und die Zusammenarbeit mit Hitchcock deswegen absagen wollte. Der jedoch fragte, wieso man sich nicht auf ein anderes Projekt einigen wolle, um doch noch zusammenarbeiten zu können. Dabei hatte Hitch ein spezielles Schlüsselbild im Auge: eine Verfolgungsjagd über die Gesichter des Mt. Rushmore-Denkmals. Sicherlich eine etwas merkwürdige Weise, in ein Filmprojekt einzusteigen, zumindest, wenn man einen Drehbuchautoren fragt. Beinahe ist dies nämlich die Vorgehensweise nach der Technik eines Comics, und nur zu einfach ist es vorstellbar, dass die Story sich den Schlüsselbildern beugen müsste, da man annehmen würde, dass Schlüsselbilder sich doch eher aus dem Plot ergeben sollten. Doch Hitchcock wollte die Rushmore-Verfolgungsjagd – und er bekam sie.
Geht man schon auf diese etwas merkwürdige Art und Weise an ein Projekt heran, muss man auch die daraus resultierenden Logiksprünge in Kauf nehmen. Das tun Hitchcock und Lehmann mit Bravour, und genau deswegen wird „Der Unsichtbare Dritte“ dem Trubel gerecht, der um ihn gemacht wird.
Als Werkzeug zur Vertuschung der alles in allem etwas simplen und vom Regisseur selbst schon früher angewendeten Geschichte dient ein rasanter Wechsel von Örtlichkeiten, Handlungssträngen, Antagonisten sowie von Stilmitteln, Kamera- und Schnitttechniken. Von Beginn an geradezu visualisiert wird dies schon durch den Titel „North by Northwest“ sowie nicht zuletzt durch den optisch absolut innovativen und erstklassigen Vorspann. Die Einblendung vom sich langsam zusammenstellenden animierten Liniennetz hin zur spiegelnden Fassade eines Hochhauses (das auf den ersten Blick eigentlich fast eher wie ein Gitter aussieht, sich dem Auge des Betrachters dann aber irgendwann offenbart und die optische Täuschung auflöst) wurde absolut brillant gelöst und ist der Zeit um Jahre voraus, was es sehr schwierig für nachfolgende Generationen von Filmemachern machte, da selbst noch einmal Zeichen zu setzen (David Finchers „Sieben“ ist das erste Beispiel mit gleicher Qualität, dass mir spontan einfällt). Abseits der optischen Attraktivität des Vorspanns sind hier die so genannten deiktischen Zeichen, welche definitionsgemäß auf etwas hinweisen, wie hier eben die sich bewegenden Linien und Pfeile, die selbst im Schriftzug des Covers (sogar bei der weniger deiktischen deutschen Übersetzung „Der Unsichtbare Dritte“) Anwendung fanden. Es handelt sich hier um die Visualisierung von Richtungsweisungen und Dynamik, die im Verlauf des stark gepacten Films mit all seinen wechselnden Schauplätzen eine gewisse Dreidimensionalität entwickeln sollten.
So wirkt der Film als Komplettwerk wie ein Universum mit verschiedenen Planeten, wobei diese Planeten als dreidimensionale Kugeln jeweils einen Handlungsstrang bzw. Handlungsort repräsentieren, von denen wir in gut zwei Stunden reichlich zu sehen bekommen. Saturn und Jupiter dieses Universums sind sicher einerseits die Flugattacken-Szene im staubigen Nichts, andererseits das Finale auf dem Mt. Rushmore, welches ja wie gesagt als Ausgangspunkt des Plots diente.
Kommen wir zuerst zum „Saturn“. Die vielzitierte Flugzeugattacke dient Filmanalysten seit jeher als Anschauungsmaterial für Einstellungsgrößen und Montagesequenzen. Hitchcock versteht es, einleitend mit einer Panoramaansicht und völliger Stille eine unglaubliche Intensität aufzubauen und die Figur Cary Grants im folgenden mit dem Zuschauer eins werden zu lassen. Dies wiederum geschieht durch den so genannten „point of view“-Effekt, wenn Grant (nachdem die Kameraperspektive von Panorama über die Totale bis auf die Halbtotale herangezoomt hat) aus dem Bild herausschaut, ein Schnitt dann den Blick auf Grants Sichtfeld freigibt, Grant daraufhin wieder in eine andere Richtung schaut und ein erneuter Schnitt wiederum die Sicht auf eine andere Richtung des weiten Straßenfeldes freigibt. Konsequenterweise wird der Zuschauer selbst inmitten dieser endlosen Einöde genau auf den Platz Grants versetzt, so dass er sich fortan selbst der unbehaglichen Umgebung ausgesetzt sieht. Ein netter Nebeneffekt dieser Schnittmontage ist der, dass die Deixis des Vorspanns, also die Richtungsweisung wieder aufgegriffen wird, zumal die Panoramaeinstellung zu Beginn die Straße als Kreuzung (= vier Himmelsrichtungen) offenbart, wenn auch durch den Staub etwas versteckt und subtil gehalten.
Der folgende Dialog mit dem einzigen Fremden in dieser anti-urbanen Einöde lebt dabei ganz frei von Perspektiven- oder Schnitt-Tricks zum einen von dem skurrilen Dialog, zum anderen von dem Spiel mit der Wahrscheinlichkeit. Denn wo dieser Mann in der belebten Stadt niemals als Kontaktperson identifiziert worden wäre, muss er es in Anbetracht der fehlenden Alternativen einfach sein. Nur entpuppt der Dialog ihn tatsächlich als rein zufällig dort stehenden Passanten, der einfach auf den Bus wartet. Das ist surreal ohne Ende und quasi eine erste Stufe des später von David Lynch weiterverfolgten Weges, nämlich das Spiel mit dem Ordinären zum Zwecke des Aufdeckens von Unerklärlichem. Der Spannungsaufbau in dieser Szene ist absolut beispiellos, und doch verspricht er nicht zuviel, denn der Höhepunkt der Szene setzt wiederum Maßstäbe. Man achte hier übrigens auch auf die Zeichen (die „Watch Your Step“-Plakette am Bus) und die Farbsymbolik (Rot dominiert).
Was den „Jupiter“ des Films betrifft, wird das Finale von „Der Unsichtbare Dritte“ zu einem der ersten Musterbeispiele an Aufwand und Hollywood-Gigantismus, was aus heutiger Sicht sogar beinahe kritisiert werden könnte (zumindest wird in neueren Hollywood-Produktionen das Streben nach dem gigantischsten Showdown überhaupt oftmals mit Seelenlosigkeit und purer Effekthascherei gleichgesetzt), bezogen auf das Jahr 1959 jedoch einmal mehr Maßstäbe setzte und den Film abschließend an Epik gewinnen ließ. Zudem erweist sich Hitchcock auch hier wieder als Meister seines Faches, denn die Verfolgungsjagd über die Präsidentengesichter kann es mit den besten Finals aus der Bond-Reihe aufnehmen und ist die auf die Spitze getriebene Konsequenz des vorhergehenden parallelen Aufbaus von Suspense, Speed und Spannung. Zuletzt ist es das i-Tüpfelchen auf dem Streben nach der Hitchcockschen perfekten Authentizität, die den Meister zuvor immerhin dazu veranlasste, illegalerweise im Inneren des UNO-Gebäudes zu drehen. Auch die Kulissen des Mt. Rushmore streben deutlich sichtbar nach derselben Perfektion.
Jedoch sind dies wirklich nur zwei aus vielen Szenenkomplexen, die es wert sind, erwähnt zu werden. Von Bedeutung ist die Tatsache, dass sich jede einzelne Szene durch welches Stilelement auch immer von den anderen unterscheidet. Die einleitende Szene, in der wir Cary Grant als gewieften Werbefachmann kennenlernen (und hier hat sich wohl auch Joel Schumacher bei seinem „Nicht auflegen“ bedient), bietet Platz für ausgebuffte Kamerafahrten und Massenszenen.
(Übrigens ganz nebenbei: schon hier kann man Hitchcock in seinem Kurzauftritt sehen, diesmal bei seinem vergeblichen Versuch, noch in den Bus zu gelangen. Nachdem der Gastauftritt des Regisseurs in den ersten Werken der Notwendigkeit von Statisten entwachsen war, wurde er irgendwann zur Gewohnheit. Um zu verhindern, dass man in jeder Szene auf den Auftritt des Meisters wartet und damit die Wirkung der Szenen verdorben würde, erfolgte er in den späteren Werken stets zu Filmbeginn.)
Die Autofahrt des betrunkenen Grant dagegen punktet mit stilsicheren und effektiven Visuals, die das Sichtfeld eines Betrunkenen eindrucksvoll demonstrieren. Die Flucht aus dem Auktionshaus wiederum bietet überraschend kräftigen Humor, der in Anbetracht der Story, die an den humorlosen „Der Falsche Mann“ erinnert, ein wenig überrascht, jedoch stets unglaublich präsent ist. Auch die Spionage an den Mauern des Unterschlupfes der Killer bleibt sehr prägnant, lässt sie den Zuschauer doch beinahe selbst in das Haus eindringen, indem die gewagte Kletterei Grants Schritt für Schritt verfolgt wird.
Die offensichtlich vorhandenen Logikschwächen verschwinden auf dem Weg zwischen diesen spezifischen Szenenkonstruktionen mehr oder weniger in schwarzen Löchern, denn indem mit dem durchgehenden Tempo immer wieder ein neuer Handlungsort angesteuert wird, wird beim Rezipienten ein Gedankenbruch provoziert, der nur im Rahmen der alten Umgebung erhalten werden könnte. Nun wäre als Preis für diese elegante Lösung zu befürchten, dass die Story als Ganze nicht zur Geltung käme, sondern stattdessen die Einzelepisoden alle für sich selbst sprächen. Dem ist aber beileibe nicht so; wenngleich die Zutaten mitunter doch stark varriieren, ist die Mischung insgesamt bemerkenswert ausgewogen, so dass die Hitchcocksche Selbsteinschätzung seines Lebenswerkes als aus verschiedenen Zutaten bestehendes Gebäck verständlich wird. Denn wo etwa „Der Falsche Mann“ ohne Zucker (Humor) auskommen musste und es den „39 Stufen“ etwas an Mehl (Essenz) mangelte, ist „Der Unsichtbare Dritte“ bezüglich der Harmonie der Zutaten die absolute Creme de la Creme.
Dieser Umstand erfordert natürlich auch Selbstbezug, und so kann man immer wieder einzelne Elemente aus den Vorgängerfilmen erhaschen. Hauptdarsteller Cary Grant, eigentlich nur zweite Wahl, sichert mit seinem geschickten und lockeren Umgang seiner Extremsituation den markanten Humor, der bei aller Hoffnungslosigkeit der Situation niemals aus dem Gesichtsfeld gerät. Nur so kann überhaupt die mit dem Tempo zusammenhängende Kurzweil garantiert werden, denn wie hätte die Melancholie und Hoffnungslosigkeit eines Henry Fonda („Der Falsche Mann“) oder eines Montgomery Clift („Ich beichte“) in diesem rasanten Szenenwechsel Platz? Stattdessen zeigen sich Elemente der Grant-Figur schon bei Michael Redgrave in „Eine Dame verschwindet“ oder bei Robert Donat in „Die 39 Stufen“.
Der Auswuchs des Suspense auf die komplette Handlung ist bei Hitchcock mindestens seit „Ich beichte“, bei näherer Betrachtung aber sogar schon seit der Stummfilmzeit Standard. Das Suchen von Beweisen und die Rekonstruktion hypothetischer Handlungsverläufe kamen derweil schon in „Bei Anruf Mord“ zur Geltung. Zur Sprache kommen sollte zudem noch die wunderbar unkonventionell gecastete Eva Marie Saint, die mit ihrer nicht nur durch den Plot gesicherten Unberechenbarkeit eine ordentliche Portion Mystik hinzusteuert. Auch sie wurde schon in „Die 39 Stufen“ vorweggenommen und erlebt hier eine Neuinterpretation. Der restliche Cast überrascht ebenfalls mit wendungsreichen und bunten Charakteren, unter anderem ein sehr junger Martin Landau und ein sehr guter James Mason.
Welchen Einfluss Hitchcock nicht zuletzt auch durch diesen Film auf die Nachwelt hatte, muss nicht mehr extra betont werden. Prinzipiell kann sich alles, was das Thrillergenre im Speziellen und Action, Humor, Liebe und Drama im Allgemeinen hervorgebracht hat, nicht eines gewissen direkten oder indirekten Einflusses lossagen. „Der unsichtbare Dritte“ bietet von allen Zutaten, die man im Verlauf von Hitchcocks Karriere liebgewonnen hatte, reichlich und verbindet sie zu einem rasanten Stilmix mit vielen Schlüsselelementen, von denen die meisten als Anschauungsbeispiel für filmische Stilmittel herhalten können. Dass der Plot letztendlich doch einige logische Mängel aufweist, versinkt in Anbetracht der gigantischen Bilderflut und dem maximalen Sehwert quasi in der Bedeutungslosigkeit.
9,5/10