Liljas Leidensweg
Ein Mädchen im Jogginganzug läuft ziellos und verzweifelt durch die Straßen. Laut ertönt die wuchtige Rammstein-Hymne "Mein Herz brennt". Dann sieht man ihr zerschundenes, schmerzvolles Gesicht. Sie kommt zu einer Autobahnbrücke.
Mit wackeliger Handkamera führt uns Moodysson sogleich in das fulminante Ende des Leidensweges der 16-jährigen Lilja ein. Was passiert, erfahren wir noch nicht. Es kommt der Titel und die harte Musik wechselt über in einen dezenten Dance-Track. Wir befinden uns "irgendwo in dem Land, das einst die Sowjetunion war", zwischen verfallenen Plattenbauten in einer wirtschaftlich besonders kaputten Gegend Russlands. Die Fahrt durch die kaputte Infrastruktur offenbart ein Bild, das man sonst eher aus Dokus über die dritte Welt kennt. Lilja ist ein Teenager in dieser Gegend. Ihre Mutter hat einen in Amerika lebenden Russen kennengelernt und lässt die ungewollte Tochter skrupellos in dem hoffnungslosen Ort zurück. Es kommt noch schlimmer - ihre Tante nimmt sich die Wohnung und verfrachtet Lilja in ein kleines heruntergekommenes Appartement. Fortan versucht Lilja mit ihrer neuen "Freiheit" zurechtzukommen und freundet sich mit einem kleinen Straßenjungen an.
Der extreme Kontrast der Kulturen, die tiefe Kluft zwischen arm und reich wird hier ungeschönigt offenbar. Armut, Egoismus, Drogenabhängigkeit (die sich mangels Geld in Kleberschnüffeln äußert) und Perspektivenlosigkeit der Jugendlichen wie Alten trifft auf McDonalds, Popmusik und Co. Die jungen Mädchen, wie Lilja und ihre Freundin sehnen sich nach Reichtum, einem Leben in Amerika, und tanzen sich in Clubs durch westliche Techno- und Dancerhythmen. Es wirkt komisch deplatziert und neigt schon fast zu einer bitteren Farce, als Lilja später, fast verhungert, gierig und lustvoll einen Burger von McDo verschlingen muss, den ihr Zuhälter ihr gakauft hat, nachdem sie mal wieder einen Arbeitstag mit lauter geilen alten dreckig-stöhnenden Männern hatte.
Damit wären wir beim weiteren tragischen Verlauf der Geschichte. Anfangs noch abgeneigt von der Prostitution, wie es ihre Freundin z.B. macht, überschlagen sich die Ereignisse, sodass sie schnell zur "Nutte" wird, und aufgrund ihrer Sehnsucht nach einem besseren Leben und ihrer sicher auch altersbedingten Naivität Opfer von Menschenhändlern wird, wie es in der Realität viel zu oft der Fall ist.
So sind die einzig positiv erscheinenden Szenen, wo Lilja Lebensmut und Glück erfährt letztendlich auch nur ein übler Trick, um ihr weiteres schlimmeres seelisches wie körperliches Leid zuzufügen. Moodysson drehte authentisch mit russischen Schauspielerinnen, die ihre Arbeit ganz fabelhaft und bewegend real ausführen. Liljas Charakter und auch der Straßenjunge, der als einziger Lilja vor der drohenden Katastrophe warnte, werden mit einer großen Überzeugung gespielt. Doch alles andere um sie herum scheint nur von extremem Egoismus und bedrückender Misanthropie geprägt. Sowieso hinterlässt der Film eine düstere Bedrückung und Melancholie in den ruhigen Momenten, aber auch in den mit harten Beats untersetzten wackeligen Bildern des Leids.
Doch habe ich auch Probleme mit der Darstellung der beklemmenden Geschichte. An einigen Stellen wird leider an Intensität gespart, nicht näher ausgeführt. Ich meine damit nicht, dass man explizit mehr Härte gebraucht hätte. Doch meiner Meinung nach verliert die EMOTIONALE Darstellung desöfteren an Stärke, wenn es darum geht, den gnadenlosen Absturz Liljas junger Existenz zwischen Gewalt und Sex, hervorzuheben. Wenn sich die ganzen Bilder von den eklig stöhnenden Grauhaarigen aneinanderreihen, überkommt mich leider manchmal eine gewisse Teilnahmslosigkeit. Das darf nicht sein. Ein gutes Musterbeispiel wäre hier etwa der qualvolle Fall der Figur Marion in "Requiem for a dream" gewesen.
Ein weiteres Problem ist die arg aufgesetzte religiöse Symbolik, die der Film zu sehr in den Vordergrund setzt. Von dem Heiligenbild, Liljas Talisman sozusagen, einmal abgesehen, werden die religiösen Motive spätestens ab der Verwendung von Engelsflügeln in Liljas "Visionen" zu einem übersentimentalen Kitsch. Dadurch geht einiges an Intensität und Traurigkeit kaputt - Moodysson hätte hier ruhig sparen können.
Trotzdem ist "Lilja 4-ever" ein gutes Stück jungen desillusionerenden Direct Cinemas, dynamisch in Szene gesetzt, bedrückend und intensiv dargestellt. Etwas überambitioniert zwar, aber trotzdem sehr mutig und gut. Für alle zu empfehlen, denen das allwinterliche Blockbuster-Unterhaltungskino langsam auf den Senkel geht. Knappe 8/10.