kurz angerissen*
Als Horrorfilm über die primitiven Wurzeln des zivilisierten Menschen angepriesen, eine Art Meta-Werwolffilm vielleicht, stellt sich "Wildling" am Ende als Parabel auf die Bedürfnisse und Ängste heranwachsender Mädchen heraus. Fritz Böhm berücksichtigt in seiner Funktion als Regisseur und Drehbuchautor viele Variablen dieser Thematik und stellt sich somit als einfühlsam und sorgfältig vorgehender Autorenfilmer heraus, der das gewählte Sujet besonders ernst nimmt. So wird nicht einfach nur das Selbsterwachen einer Teenagerin verfolgt; gleichzeitig paraphrasiert Böhm die allgegenwärtigen Ängste eines Vaters vor dem Verlust der Tochter an die Welt. Dabei unterstützen ihn Brad Dourif, der als "Daddy" all seine Schauspielerfahrung als arme Seele in einer grausamen Welt in die Waagschale legt; Liv Tyler, die wie ein wärmendes Feuer auf die weitgehend in regennassen Schwarz-Blau-Grüntönen gehaltene Farbpalette einwirkt; und natürlich Hauptdarstellerin Bel Powley, die in keiner Weise dem klassischen Schönheitsideal entspricht, sondern mit ihren offenen, fragenden Augen einen tief verborgenen Beschützerinstinkt zu wecken versteht und so eine ganz besondere Art von Ausstrahlung an den Tag legt.
Dass "Wildling" bewusst mit dem Zuschauerwissen um die offenen Grenzen zwischen Realität und filmischer Phantastik spielt, offenbart er durch die Ausgangskonstellation schon sehr früh. Während die Bildsprache den Charakter eines düsteren Märchens Grimm'scher Prägung annimmt, das Kind also die Schauergeschichte von einem pelzigen Waldmonster zu hören bekommt, offenbart sich dem Erwachsenen eine mögliche Missbrauchssituation. Ausgehend von der Frage, ob sich das Märchenhafte am Ende als Wirklichkeit entpuppt oder der eskapistische Traum einer Gefangenen bleibt, klärt sich auch die Frage nach dem Gut oder Böse der Handlungsmotive der Beteiligten. Unabhängig vom Ausgang kann man Böhm also zumindest bescheinigen, keinen simplen Horrorfilm gedreht zu haben, sondern gesellschaftliche Subtexte so tief in seinen Stoff eingewoben zu haben, dass man kaum mehr von einem Horrorfilm sprechen mag.
Ganz nahtlos setzt er seine Parabel allerdings nicht auf. So ist es zwar für die Aussagevielfalt des Films unabdinglich, dass sich Anna kurz nach ihrer Befreiung neugierig auf Parties stürzt, scheinbar mühelos Freundschaften schließt und ein ausgeprägtes Bewusstsein für Gerechtigkeit entwickelt, psychologisch gelingt es allerdings nicht, diese Persönlichkeitsentwicklungen zu begründen. Wohl kaum würde man einem Mädchen, das zeit ihres Lebens nie etwas anderes gekannt hat als einen möblierten Dachboden mit elektrisiertem Türknauf, eine derart schnelle Entwicklung abnehmen. Mit der möglichen Fantasy-Lesart ihrer Figur ist diese Dissonanz zwischen erlebter Vergangenheit und dem Verhalten in der Gegenwart kaum zu erklären; vielmehr macht Böhm hier Zugeständnisse, um Horrorfilm und Coming-Of-Age-Drama miteinander in Einklang zu bringen.
Manch einem wird dann auch der effektgetriebene Schlussakt einen Hauch zu viel von den leisen Zwischentönen zerstören, die bis dahin aufgebaut wurden - das allerdings ist Geschmackssache. "Wildling" empfiehlt sich in jedem Fall als düstere Umschreibung für erwachende Sexualität (und damit Freiheitsstreben) im weiblichen Körper und Geist. Das Handeln der Figuren, zumindest aber jenes der Hauptfigur, wirkt nicht immer einleuchtend. Wie gut also, dass auf die starken Darsteller zu zählen ist, die viele der Schwächen erfolgreich kaschieren.
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