„Ich versteh' dich nicht mehr.“
Das vierteilige TV-Drama „Das Verschwinden“ aus dem Jahre 2017 ist Hans-Christian Schmids („Nach fünf im Urwald“, „23“) bis dato jüngste Regiearbeit. Die deutsch-tschechische Koproduktion feierte ihre Premiere am 26. Juni 2017 auf dem Filmfest München, die TV-Erstausstrahlung folgte ab dem 22. Oktober 2017. Das Drehbuch verfasste Schmid zusammen mit Bernd Lange, zudem trat Schmid als Koproduzent in Erscheinung. Der erzählt Zeitraum umfasst acht Tage, wobei je eine rund 45-minütige Episode einen Tag abbilden sollte. Die Erstausstrahlung erfolgte jedoch in Form von vier Doppelfolgen.
„Glaubst du, ich sitz' hier noch 20 Jahre und schneide Zwiebeln?!“
Forstenau, Bayern: Die 20-jährige Janine Grabowski (Elisa Schlott, „Draußen am See“) ist just nach der Feier mit ihren Freundinnen Manu (Johanna Ingelfinger, „Tatort: Dinge, die noch zu tun sind“) und Laura (Saskia Rosendahl, „Zorn: Vom Lieben und Sterben“) anlässlich ihres 20. Geburtstags spurlos verschwunden. Janines alleinerziehende Mutter Michelle (Julia Jentsch, „Die fetten Jahre sind vorbei“) wendet sich an Janines Freundes- und Bekanntenkreis und an die Polizei, verzweifelt aber an Schweigen, Interesselosigkeit und Untätigkeit. Immerhin konnte ihr Dienststellenleiter Gerd Markwart (Stephan Zinner, „Shoppen“) mit seiner Vermutung, Janine sei nach ihrer Party kurzerhand über die nahegelegene tschechische Grenze, um noch ein paar Tage weiterzufeiern, einen Hinweis geben, den sie weiterverfolgt. Tatsächlich wird die Polizei doch noch aktiv, als Janine in Verdacht gerät, eine Crystal-Meth-Dealerin zu sein. Mehr und mehr dämmert Michelle, wie wenig sie eigentlich über ihre Tochter weiß…
„Ich erkenn' mein eigenes Kind nicht mehr...“
Der Prolog, in dem zwei Hobbyjäger ein Reh schwer verletzen und nach offenbar stundenlanger Suche mehrere finale Rettungsschüsse abgeben, verschafft einen Überblick über die zwar wunderschöne, grüne Landschaft, vermittelt aber auch einen Eindruck von der Provinzialität der Gegend – und der tödlichen Gefahr, die ihre Schönheit kontrastiert. Man erfährt schließlich, dass man sich auf tschechischem Gebiet kurz hinter der Grenze befindet. Richtiggehend beklemmend wird es, wenn die Jäger, von denen sich einer später als Bulle Markwart herausstellen wird, am Grenzübergang beobachten, wie ein junges, einen verwirrten Eindruck machendes Mädchen aus einem Auto gestoßen wird: Janine.
„Das Leben macht oft keinen Spaß, so viel kann ich dir versichern.“
Nach dem Vorspann setzt die Handlung ein paar Tage vor diesen Ereignissen ein: Zwischen Michelle und Janine entbrennt ein Generationskonflikt, ausgerechnet an Janines Geburtstag. Damit etabliert die Serie eines ihrer Sujets. Michelle wollte ihrer Tochter einen Kuchen ins Büro bringen und erfährt dort, dass Janine ihre Ausbildung geschmissen hat. In Forstenau greift die Droge Crystal Meth um sich, Janine und ihre Freundinnen wollen ins Geschäft einsteigen – womit das zweite Sujet etabliert wird. Relativ viele Figuren werden eingeführt, u.a. Manus bourgeoise Eltern Steffi (Nina Kunzendorf, Frankfurter „Tatort“ 2011-2013) und Leo Essmann (Sebastian Blomberg, „Was tun, wenn's brennt?“), die ihre Tochter nach deren Therapieaufenthalt endlich drogenfrei wähnen, Lauras Vater Helmut (stark: Michael A. Grimm, „Polizeiruf 110: Er sollte tot“), der mit seiner chronisch kranken Frau Annegret (Caroline Ebner, „Frühling“) zusammenlebt und gegen die Bekanntschaft seiner Tochter mit dem türkischstämmigen Dealer Tarik (Mehmet Atesci, „Tatort: Land in dieser Zeit“) ist, und Tariks Eltern Kerstin (Teresa Harder, „Alki Alki“) und Ayhan (Vedat Erincin, „Almanya – Willkommen in Deutschland“), die wiederum verständlicherweise etwas gegen dessen Drogenhandel haben. Hinzu kommen Michelles Ex-Mann, mit dem sie ums Sorgerecht ihrer jüngsten Tochter Evi streitet, sowie Polizist Jens Köhler (Martin Feifel, „Was tun, wenn's brennt?“), der als einziger noch nicht korrumpiert scheint, allerdings erst in Erscheinung tritt, als es um Janines mutmaßliche Straftaten in Zusammenhang mit dem Crystal-Meth-Verkauf geht.
„Warum wollt ihr, dass alle so werden wie ihr?“
Schmid beschwört die bedrückende Atmosphäre einer Kleinstadt herauf, in der jeder jeden kennt und alles über einen weiß – oder zu wissen glaubt. Denn welch großer Irrtum das ist, wird mittels fein dosierten Enthüllungen und Wendungen verdeutlicht: So finden Manus Eltern heraus, dass sie gar nicht in Bayreuth studiert, verzweifelt Ayhan schier daran, dass sich sein Sohn als Dealer entpuppt, und kommen gegen Ende von Episode 3 gleich zwei bisher gehütete Familiengeheimnisse ans Licht. Zwischen Janines seit langem getrenntlebenden Eltern brechen uralte Konflikte wieder auf, wodurch die Zuschauerinnen und Zuschauer etwas über die Familiengeschichte erfahren, sich so nach und nach einem Gesamtüberblick verschaffen und sich einen Reim auf die Umstände, unter denen die Jugend in Forstenau aufwächst, machen zu können. Eine interessante zeitweilige Koalition bilden Michelle und Manu, die etwas Rasanz entwickelt, als es zum auch körperlichen Konflikt zwischen beiden um eine Tüte Crystal Meth kommt. Der Cliffhanger zwischen den Episoden 2 und 3 spielt mit der Frage nach einer tödlichen Überdosis. Ein wenig Action entwickelt sich, als Michelle zu Hause überfallen wird und die Polizei eine Crystal-Meth-Küche stürmt. Markwart will sich in Polizeibrutalität üben, wird aber von einer Kollegin ausgebremst. Ein Selbstmord sowie ein weiterer Suizidversuch stehen schließlich stellvertretend für den vollends eskalierten Generationskonflikt.
„Wir wissen gar nichts, wenn wir ehrlich sind…“
Unbeeindruckt ermittelt Michelle derweil immer weiter im Milieu jenseits der Grenze, fragwürdigerweise mit der kleinen Evi im Schlepptau, gegenüber der sie sich rechtfertigen muss und ihr alles erklärt. Ein Foto Janines verrät schließlich ein wichtiges Detail und macht aus der Geschichte ein in erster Linie interfamiliäres Drama, das auf hartnäckig verteidigten Lebenslügen basiert und der Kleinstadtgemeinde einen weiteren irreparablen Schaden zufügt. Die Abgründe tun sich längst vor allem in der Erwachsenenwelt auf. Kein Wunder, dass sich die Kinder in Drogen flüchten, scheinen Schmid & Co. uns sagen zu wollen, indem sie vergiftete Familiendynamiken entlarven. Sogar Inzestgefahr durch unausgesprochene und damit unbekannte Verwandtschaftsverhältnisse in dörflicher Enge wird aufgegriffen. Ja, es wird hart mit dysfunktionalen Kleinstädten ins Gericht gegangen.
„Hier wohnen gute Leute, auch wenn sie vielleicht nicht immer Gutes tun.“
Die Dialoge wirken dabei bisweilen etwas gekünstelt. Viele Passagen werden betont langsam erzählt und das Erzähltempo so stark gedrosselt, als habe man Sorge gehabt, die sechs Stunden Laufzeit sonst nicht ausfüllen zu können. Viele Dialoge werden eher geflüstert denn gesprochen; eine ebenso häufig anzutreffende wie nervige Macke deutscher Filmemacher(innen), um Tiefgang zu suggerieren. Gut gelungen ist die Ambivalenz des Figurenensembles, es scheint keine ausschließlich böse Rolle zu geben. Auch das herbstliche Ambiente überzeugt. Dennoch verliert „Das Verschwinden“ stets dann deutlich an Reiz, wann immer lediglich die Erwachsenen agieren und von den Jungmimen nichts zu sehen ist – obwohl es sich bei ihrem Spiel, insbesondere bei Ingelfingers und Rosendahls, um echte Lichtblicke handelt. Sich an Michelles Auftreten in Jacke, aber Minirock zu gewöhnen, fällt bis zum Schluss schwer – sollte dies der Versuch gewesen sein, eine „junggebliebene“ Mutter zu illustrieren, ist er missglückt. Trotz der omnipräsenten Frage als Leitmotiv, was aus Janine geworden ist, gelingt es leider nicht, durchgehend Spannung aufzubauen. Stattdessen wirkt „Das Verschwinden“ wie ein überkonstruiertes Melodram, dessen hehre Anliegen und spannende Ansätze im TV-Produktionssumpf aus missverstandenen Stilmitteln und der künstlerischen Selbstbeschneidung unterzugehen drohen, (Melo-)dramen bitter und dröge zugleich mehr als Selbstgeißelungen denn als Unterhaltung anzubieten.