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Auf der Rückreise von Jerusalem nach London nutzt der große Meisterdetektiv Hercule Poirot ab Stambul den Orient-Express. Doch irgendwo im Bergland des Balkan bleibt der Zug im Schnee stecken und ein Mord geschieht: Ein amerikanischer Geschäftsmann, der Poirot am Vortag noch als Leibwächter engagieren wollte, wird in seinem Schlafwagenabteil erstochen aufgefunden.  Bedingt durch die Position des Zuges auf einer Brücke, muss der Täter aber noch im Zug sein. Poirot beginnt zu ermitteln.

Für einen älteren Menschen wie mich ist es sehr schwer, diesen Film, den ich jetzt mal ORIENT_2 nennen möchte, nicht mit Sidney Lumets Vorgänger von 1974, folgend ORIENT_1 genannt, zu vergleichen. ORIENT_1 punktet durch eine sehr dichte und traumhafte, um nicht zu sagen alptraumhafte, Atmosphäre, erstklassige Schauspieler, und eine große Nähe zum Originalroman von Agatha Christie. Vor allem die Rückblenden, die das dem Verbrechen zugrunde liegende Geschehen zeigen, sind extrem eindringlich geraten und haben mich schon immer zum Schaudern gebracht durch ihre Abgründigkeit und die hinter den Bildern lauernde Brutalität. Auch die Enge des Schauplatzes und die Unausweichlichkeit der Vorgänge werden hier ruhig und doch eindringlich als Spannungselemente verwendet.  

Kann man ORIENT_2 nun vergleichen? Soll man das überhaupt? Eigentlich darf man es nicht, Kenneth Branagh hat einen Film erschaffen, der natürlich erstmal für sich als alleinstehendes Kunstwerk angesehen werden sollte. Aber auch Branagh muss klar gewesen sein, dass ORIENT_2 ein Remake von vielen ist, und damit ein Vergleich mit welchem der vier Vorgänger auch immer, zwangsläufig stattfinden wird. Dumm nur, dass ich die Version von 1974 wie erwähnt sehr bewundere, und mir im Vorfeld bereits klar war, dass das Remake nur abstinken kann. Wer also ORIENT_2 mag, der sollte hier vielleicht nicht mehr weiterlesen …

ORIENT_1 schwelgt durch den ausgiebigen Einsatz von Weichzeichner in einer geradezu somnambulen Stimmung. Der eingeschneite Zug, der von der Außenwelt vollständig abgeschnitten ist, symbolisiert einen ganzen Mikrokosmos, zur Gänze losgelöst von der Welt da draußen. ORIENT_2 begeht bereits einen Fehler, in dem diese Abgeschlossenheit aufgelöst, und die Klaustrophobie eines hermetisch abgeschotteten Ortes nicht eingesetzt wird. ORIENT_ 2 geht aber noch viel weiter, in dem er bereits in dieser anderen, der diesseitigen, Welt beginnt: Der Start ist eine Einführung in den Charakter Hercule Poirots, der an der Klagemauer in Jerusalem einen Kriminalfall löst. Filmisch sehr anschaulich und geschickt gelöst, zugegeben, aber mir persönlich viel zu sehr orientiert an Guy Ritchies SHERLOCK HOLMES-Verfilmung: Poirot sieht sowohl die Flucht wie auch den Fluchtweg des Täters voraus und stellt Fallen auf, die der Täter dann auf dem Fluchtweg auch prompt übersieht. Damit alle ihren Spaß haben und Poirot als Genie klassifiziert werden kann. Was er, dem literarischen Kontext folgend, auch immer war, aber nicht auf diese präkognitive Art, sondern aufgrund einer genauen Beobachtung und logischen Denkens.

Diese Vorgeschichte hat nun mit der Handlung des Films rein gar nichts zu tun und dient nur dazu, Eigenarten des belgischen Detektivs einzuführen, die in den Romanen so bislang noch nicht bekannt waren (und ich habe eine große Menge Poirot-Romane gelesen). Überhaupt gibt Kenneth Branagh dem Ermittler eine sehr literarische Note, und zwar fügt der große (und hervorragende) Shakespeare-Darsteller eine große Portion, eben, Shakespeare hinzu. Poirot hat einen Liebeskummer, er ist aufbrausend, er ist theatralisch … Alles Charakteristika, mit denen ich weder den Poirot aus den Romanen, noch den aus den Verfilmungen, etwa mit Peter Ustinov, jemals in Verbindung bringen würde. Heinrich V. als Detektiv, das Schlachtfeld von Agincourt auf verräterische Spuren untersuchend? Zu diesem, und nur zu diesem, Umstand passend sind die vollkommen überflüssigen und aufgesetzt-künstlich wirkenden Action-Szenen, die, mit gängiger Bombastmusik unterlegt, das dahindämmernde Publikum aufwecken und ihm vorgaukeln soll, dass hier gerade tatsächlich etwas Relevantes passiert.

Denn in Wirklichkeit sollten in ORIENT-EXPRESS sowohl die Handlung wie auch die Action in Form von Gesprächen stattfinden: In den Verhören die geführt werden, und in den Dialogen zwischen dem Ermittler und den Verdächtigen. Unterlegt mit entsprechenden Rückblenden kann das ganze dann filmisch interessant aufbereitet werden, so dass der Zuschauer sich nicht dem seligen Schlaf hingeben kann, sondern gespannt lauschen muss, was die Charaktere zu sagen haben. Am Ende des Films, wie es bei Agatha Christie sehr häufig geschieht, werden alle Verdächtigen in einen Raum gebeten, und der Detektiv schildert den eigentlichen Vorgang des Verbrechens aus seiner Sicht, inklusive der Vorgeschichte, möglicher Motive und der schlussendlichen Entlarvung des Täters, so dass nach der letzten Seite (bzw. der Abblende) eigentlich alles klar sein sollte, und der Zuschauer vergleichen kann, ob er anhand der geschilderten Ereignisse die richtigen Rückschlüsse gezogen hat.

Nicht so hier! Hier werden die Motive im Lauf der Handlung als ausgesprochen unübersichtliches Puzzle vor dem Zuschauer ausgebreitet. Die Passstücke zwischen den Puzzleteilen sind kaum vorhanden, was dann leider dazu führt, dass man bei dem Verhör von Verdächtiger Nummer 4 die möglichen Verbindungen zu Verdächtiger Nummer 1 wieder vergessen hat. Durch das hohe Tempo des Films ist es praktisch nicht möglich, eigene Schlussfolgerungen anzustellen, weil während des eigenen Gedankengangs Informationen verpasst werden, die derweil auf dem Bildschirm hin- und herspringen. Was ich bei einem Krimi für einen eklatanten Fehler halte, denn eine Grundstrategie bei einem erfolgreichen Krimi ist es immer, den Rezipienten zum eigenen Mitraten aufzufordern. Jeder Zuschauer betätigt sich beim Who-Dunnit gerne als Detektiv. Und gerade eine so komplexe Story wie ORIENT-EXPRESS braucht, damit sie beim Zuschauer verständlich ankommt, eine gewisse Zusammenfassung. Eine Zerstückelung der verschiedenen Informationsstränge zerstört die in sich geschlossene Geschichte und macht den Storyaufbau zunichte.

Und genau das ist es, was hier passiert. Während der Mordnacht darf Poirot auch noch komisch sein (was dem gesamten Ambiente und der eiskalten Stimmung zutiefst widerspricht, denn die Grundhaltung auch von ORIENT_2 ist bierernst - bis ausgerechnet auf die Szenen während des Mordes), er darf einen Zweikampf auf einer verschneiten Brücke ausfechten (also außerhalb des Zuges, was der Christie’schen Grundidee einer abgeschlossenen Welt entgegensteht), er bekommt sogar eine Pistolenkugel in den Arm geschossen, und er zieht seine Schlussfolgerungen über verschiedene Stationen des Films verteilt, was, ich erwähnte es bereits, die Zusammenhänge des Hintergrundes nur schwer nachvollziehbar macht.

Im Vergleich mit der Version von 1974 (und mit dem Roman noch viel mehr) ist ORIENT_2 also eigentlich unbrauchbar. Vielleicht mag der Film als Parodie durchgehen, dafür ist er aber nicht komisch genug.
Kann ORIENT_2 denn als eigenständiger Krimi funktionieren? Ich behaupte nein. Gerade aus genau dem Grund, dass das Motiv für den Mord nur schwer verständlich transportiert wird. Dass die Funktionen der einzelnen Charaktere nicht wirklich klar werden. Und dass die Atmosphäre des Films in sich nicht stimmig ist. Der Zuschauer kann mit dem Detektiv einfach nicht Schritt halten, er kann die Gedankengänge des Ermittlers nicht nachvollziehen, und spätestens wenn Poirot auf das Bild seiner Angebeteten starrt und “Ich finde den Schlüssel nicht“ oder so etwas ähnliches vor sich hinmurmelt, dann fragt sich der krimierfahrene Zuschauer schon, wo jetzt da eigentlich die Aufklärungsarbeit sein soll. Das Mitraten entfällt zugunsten des Bestaunens eines ordentlich aufspielenden Casts und der nett gemachten CGI-Hintergründe. Was aber meines Erachtens nicht der Sinn eines Krimis sein sollte …

Nun ist dies alles aber der Blickwinkel eines alten Mannes in den fünfziger Jahren, der den Roman kennt und liebt, und der eben auch andere Verfilmungen kennt (OK, eine zumindest). Die 16-jährige Tochter hat da einen ganz anderen Blickwinkel, die bestaunt nämlich genau das, was der alte Mann zumindest teilweise ablehnt: Die tollen Effekte. Die Atmosphäre beim Teaser zu Beginn. Die Lokomotive in den verschneiten Bergen. Kenneth Branagh kam sehr gut an, und allenthalben wurden die Schauspieler und das vorherrschende Flair gelobt.

Manchmal kann Filmeschauen schwierig sein – Nämlich dann, wenn man zu viel gesehen hat, und sich die Vergleiche auch dann aufdrängen, wenn man eigentlich gar nicht vergleichen mag. Und die Begeisterung der Tochter zeigt, dass zumindest der Geschmack der Moderne offensichtlich getroffen wurde. Insofern ist der ganze vorhergehende Text überflüssig, denn wenn junge Leute auf diese Art für (mehr oder weniger) klassische Stoffe begeistert werden können, dann ist auf jeden Fall irgendetwas richtig gemacht worden. Und der alte Mann sollte sich in seine Ecke zurückziehen und schmollen. Oder seinen Horizont erweitern …

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