kurz angerissen*
Rainer Sarnet benötigt in seinem dritten Spielfilm kaum mehr als zwei Minuten, um jedem Nicht-Esten ein saftiges, fettes „WTF“ auf die Stirn zu zaubern. Das klapprige Gestell aus landwirtschaftlichen Werkzeugen, das in der Eröffnungsszene eine Kuh entführt, ist allerdings nur die Eintrittskarte in eine wunderlich verdrehte Melange aus den fremdartigen Bräuchen und kulturellen Sagen Estlands, die „November“ auf unnachahmliche Weise ausbuchstabiert, bis selbst abstrakte Entitäten wie die „Seuche“ einen Körper zugewiesen bekommen (vergleichbar dem Tod in Ingmar Bergmans „Das Siebente Siegel“) und mit entsprechenden Fähigkeiten in die Handlung eingreifen.
Einem von konventionellen europäischen Volkslegenden geprägten Verstand wird durch diese Methodik so manches Laken auf links gedreht. Weder der Teufel noch das arme Bauernvolk, mit dem er verstohlen Verträge abschließt, will so recht seinen vorgegebenen Platz einnehmen. Hinzu gesellen sich Werwölfe, die im Vollmond ihre Transformation durchlaufen und Geister, die im nächtlichen Wald eine bezaubernde Prozession aus Lichtern verursachen. Die Grenzbereiche ihrer Zonen überkreuzen sich fast willkürlich. Mittendrin eine Liebesgeschichte, die wie ein fremdes Artefakt in der eigens für sie ausgeschmückten Collage aus dem Bild ragt, zumal Liebe und Romantik überstrahlt werden von der Hinterlist und Heimtücke sämtlicher Agierender, die keine Gelegenheit auslassen, sich gegenseitig zu übervorteilen.
In manchem Moment wirkt Sarnets Romanadaption seines Freundes Andrus Kivirähk wie unzusammenhängendes Stückwerk, das ebenso viel Mühe hat, seinen roten Faden zu halten, wie das Werkzeuggestell in der Eröffnungsszene seine aufrechte Form. Doch dafür entschädigen spektakuläre Schwarzweißkompositionen, die nicht etwa bloß stur eine einzige ästhetische Linie verfolgen, sondern mit jeder Szene Lichtverhältnisse und Kontraste neu vermischen: Mal versinken die Blüten der Bäume im Hintergrund in einem See aus Milch, dann herrschen scharfe Konturen in der Hütte, die nur vom flackernden Feuerschein beleuchtet wird.
„November“ zu erleben ist wie eine neue Sprache zu lernen: Anfangs versteht man kein Wort, aber mit jeder neu gelernten Vokabel erschließt sich die Kultur des Landes ein wenig mehr. Die eigene Muttersprache verhindert es, dass man völlig eintauchen kann in das manchmal widersprüchlich wirkende Kulturgut, womöglich stößt man sich auch an manch obszön wirkendem Brauch. Aber ohne jeden Zweifel wird man fasziniert dem Klang der Wörter lauschen und versuchen, hinter seine Bedeutung zu steigen.