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Entweder man ist starr oder in Bewegung. Beides lässt sich schwer vereinen. Ein Eissturm verbindet im tieferen Sinn beides, die Kälte des Eises und die Dynamik des Sturms. Ang Lee lässt symbolische Bilder sprechen. In diesem Sinne zieht im Jahre 1973 stürmisch die sexuelle und gesellschaftliche Revolution des liberalen Zeitgeistes in die amerikanischen Häuser, die nach außen hin Idylle vermitteln. Bürgerliche Spießigkeit prallt auf liberales Gedankengut. Der Crash ist vorprogrammiert.

Reden und Handeln stehen, vor allem bei den Erwachsenen, die eigentlich noch in dem anerzogenen, konservativen Bürgertum gefangen sind, im Gegensatz. So ist die Kälte bei den Hoods schon vor dem Eissturm, der die Kleinstadt in Connecticut erreichen wird, präsent. Das Ehepaar (Kevin Kline, Joan Allen) ist unglücklich. Therapien wurden abgebrochen und die Kommunikation untereinander ist gestört. Zwischenmenschlich bewegt man sich im Nichts. Frustration manifestiert sich. Er schläft mit der Nachbarin (Sigourney Weaver), sie klaut und wird erwischt. Man flieht vor sich selbst und springt auf den Zug des Zeitgeistes auf. Sexuelle Freiheit wird propagiert, Partnertausch innerhalb der Dorfgemeinde soll Glück herbeiführen.

Liberalismus wird aber nur solange vorgeschoben, bis bürgerlich Werte daran erinnern, was die eigenen Kinder zu tun bzw. zu lassen haben. Man kann natürlich über alles reden, aber sobald das Wort gesprochen ist, wird die autoritäre Moralkeule ausgepackt. Dabei leben Tochter und Sohn (Tobey Maguire, Christina Ricci) ihre wahren Bedürfnisse und fliehen nicht davon. Die Pubertät treibt Paul zum Gedanken, endlich die Unschuld an die hübsche Libbetts (Katie Holmes) zu verlieren, während Wendy, ähnlich wie ihr Vater, vorzugsweise im Nachbarhaus mit Mikey (Elijah Wood) und dessen jüngeren Bruder Sandy (Adam Hann-Byrd) sexuell experimentiert. Die Jugend ist seinerzeit stark politisiert, revolutionäre Gedanken werden auslebt. Präsident Nixon ist natürlich ein Schwein und überhaupt, die konservativen Spießbürger stinken zum Himmel. Die Entwicklung verläuft im Sinne des jugendlichen Idealismuses normal, problembeladener ist in erster Linie die doppelmoralische Welt der Eltern.

So geht aus der Bestandaufnahme die Entwicklung zweier Familien und Altersgruppen hervor. Beide leiden auf unterschiedlich Weise, im Prinzip wegen den gleichen Ursachen. Von den Eltern, die ein gestörtes Verhältnis untereinander und zu sich selbst haben, wird Freiheit im Sinne des Zeitgeistes gepredigt und Autorität ausgeübt. Die Schizophrenie bringt Humorvolles und Dramatisches hervor. Das Entertainment wird nicht vernachlässigt, auch wenn man jederzeit die Kälte spürt, welche filmisch verwoben ist. Blass unterkühlte Farben oder die immer wiederkehrende Symbolik „gecrushter“ Eiswürfel vermitteln, was zum Ausdruck gebracht werden soll.

Das stürmische Ende ist lediglich die metaphorische Spitze des Eisbergs. Der allgemeine Umbruch, gesellschaftlich wie entwicklungsbedingt, fordert Opfer. Die Natur untermauert nur das, was vorher schon vorhanden war – Starrheit, familiäre Kälte, der starke Wind des liberalen Wandels. Naturalistisch wird alles erstarren, wenn der Sturm kommt. Erst wenn das Eis schmilzt, ist die Chance auf Veränderung da.

Dem Blick auf das Geschehen liegt subtile Ironie zugrunde. Regisseur Ang Lee ist nicht zynisch, er stellt niemanden an den Pranger, auch nicht die zwischen Tradition und gesellschaftlichem Aufbruch gefangenen Eltern. Man ist sich der Problematik der inneren Unausgeglichenheit bewusst. „Der Eissturm“ bewahrt ironische Distanz, auch wenn er die gezeigte Welt sehr plastisch werden lässt, zumal das komplette Ensemble Identifikationsmomente hervorbringt. Pubertäre Jugendliche, zwiespältige handelnde Erwachsene – traditionelle und revolutionäre Gedanken.

Die Figuren sind keine Fremden, weil sie menschlich wirken und der Zeitstrom greifbar gemacht wird. Comics werden gelesen, Menschen sind politisiert. Die 70er Jahre werden zugänglich. Das Resultat beeindruckt, weil Lee nicht nur den Bestand aufnimmt, sondern fein humorvoll erzählt. Bilder sprechen eine eigene Sprache und das Schauspiel leistet hervorragende Arbeit. Es kommt nicht von ungefähr, dass die seinerzeit jugendlichen Schauspieler heute eine gewichtige Rolle im Business spielen. Hervorragend ist vor allem Christina Ricci als rebellische Teenagerin auf sexuellem Experimentiertrip.

Der finale Sturm bringt den Neuanfang, das Erwachen in der Eiszeit. Rick Moodys literarischer „Eissturm“ wird lebendig, weil Ang Lee die 70er Jahre mit Feingefühl portraitiert und visionär auf die richtigen Schauspieltalente setzt, um Ensemblekino gedeihen zu lassen. In der Ruhe liegt die Kraft, nichts erstarrt im bildhaften und gesellschaftlichen Frost. (9/10)

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