Zwischen 2000 und 2007 verbreitete der Nationalsozialistische Untergrund, kurz NSU, in Deutschland rechten Terror. Die Ermordung von neun Menschen nicht-deutscher Herkunft sowie einer Polizistin, 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle gaben der Polizei jede Menge Anlass darüber nachzudenken, dass die türkische Mafia offensichtlich recht aktiv ist. Oder die kurdische Mafia. Oder die albanische Mafia.
Neun tote Menschen. Zwei davon könnten Nuri Sekerci und sein Sohn Rocco sein. Könnten, denn dies sind die fiktiven Opfer in Fatih Akins Spielfilm AUS DEM NICHTS, der versucht, das Leid eines Opfers dieser Terrorserie aufzuarbeiten. Nuri und Rocco sind tot, von einer Nagelbombe grausam in Stücke zerrissen, aber die Ehefrau und Mutter Katja Sekerci lebt noch. Sie lebt mit einem entsetzlichen Loch in ihrem Leben, in dem vorher eine funktionierende und liebende Familie war. Die Schwiegermutter gibt ihr eine Teilschuld, die eigene Mutter sucht die Schuld beim toten Ehemann, und irgendwie scheint außer ihrer besten Freundin Birgit niemand da zu sein für sie. Da sie selber ihren Schmerz mit Drogen versucht zu bewältigen, und die Polizei diese Drogen findet, wachsen Katja die Probleme langsam ernsthaft über den Kopf …
Doch anders als in der Realität ist die Polizei im Film auf Zack, und verhaftet die beiden Neo-Nazis Edda und André Möller. Es kommt zum Prozess, in dem Katja als Nebenklägerin auftritt. Nun ja, wie so ein Prozess aussieht, das kennt man aus US-amerikanischen Gerichtsfilmen, und es stellt sich die Frage, inwieweit so etwas realistisch ist oder auch nicht. Die Nebenklägerin wird aufgrund ihres Drogenbesitzes fast zur Schuldigen abgestempelt, die Zeugen werden nach aller Kunst zerfetzt, und der Anwalt der Täter ist ein rhetorisch geschliffenes Schwein. Genau so, wie sich der kleine Fritz das nach dem Genuss von John Grisham-Verfilmungen auch vorstellt, aber spannend ist es allemal. Und erschreckend, wenn man weiß, dass Fatih Akin diese Szenen mit dem Umgang von Zeugen und den Angehörigen der Opfer aufgrund von Beobachtungen beim NSU-Prozess entwickelt hat.
Das Urteil unterscheidet dann gründlich zwischen Recht und Gerechtigkeit, und sorgt für einigermaßen Konsternation beim Zuschauer. Unterstützt durch eine erstklassige Kameraarbeit fühlen wir als Zuschauer mit Katja mit, erleben ihren ganz persönlichen Weltuntergang, und stürzen gemeinsam mit ihr in ein unendlich tiefes und schwarzes Loch. Es mag vielleicht sein, dass Fatih Akin hier etwas zu plakativ vorgeht, aber hey, dies ist ein Film, und dieser Film soll Emotionen wecken und Denkanstöße liefern. Was er beides richtig gut macht. Schon nach dem Anschlag, wenn Katja auf dem regennassen Asphalt zusammensinkt, ist der Kloß im Hals des Zuschauers verdammt groß, und das Unbehagen bleibt über die (anfängliche) Richtung der Ermittlungen, über so manche Gestalt in der Gerichtsverhandlung und über das Urteil hinweg bestehen, bis er zum einem schmerzhaften Ballen im Magen wird.
Meine Frau, Mutter einer 17-jährigen Tochter, stellte die Frage in den Raum, wie sie wohl reagieren würde. So wie Katja es am Ende des Films tut? Oder anders? Eine Frage, die kein Mensch, der so etwas nicht erleben musste, zufriedenstellend beantworten kann, weil kein Mensch bis dahin in solche Abgründe hineingeschaut hat. Fatih Akin zeigt uns diese Abgründe, und mit Diane Kruger hat er eine Hauptdarstellerin gefunden, die uns dieses Loch im Boden, das alles Leben und alle Gefühle aufsaugt, darstellen kann wie man es nicht für möglich gehalten hätte. Allein die Performance von Frau Kruger ist es bereits wert, sich AUS DEM NICHTS anzuschauen, und Geschichte, Stimmung, Darsteller und Musik geben alles, um den Zuschauer zu fesseln.
Ein beklemmendes und dichtes Stück Zeitgeschichte in Form einer Narration. Fiktiv? Nicht für alle Menschen, manche mussten diesen Schmerz erleiden. Und mit ihm leben. AUS DEM NICHTS ist nicht immer schön, aber er ist gut. Und er ist wichtig. Denn er gibt Menschen eine Stimme, die nie gehört werden.