„The Art of Simplicity - John Wick returns"
Der größte Vorzug von Rachethrillern ist zugleich ihr größer Nachteil: Sie sind simpel. Es gibt also im Idealfall praktisch keinerlei Abschweifungen vom etablierten Grundschema. Motivation, Reaktion und Konsequenzen folgen festen Mustern und speisen sich aus fixen Kriterien. Mann nennt das dann gern schnörkellos, kompromisslos, oder auf den Punkt. Die Kehrseite ist aber eben auch ganz leicht identifizierbar. Eine zementierte Formel begibt sich zwangsläufig auf den gefährlichen Pfad der Vorhersehbarkeit, der Redundanz, der Repetition.
Variationen sind nur innerhalb der festen Bausteine und vor allem bei Verpackung und Anstrich möglich. Das gelingt nicht oft, aber wenn, dann hat man auch gleich einen Meilenstein vor sich, zumindest in engen Genrekategorien gedacht. Ein solcher gelang vor zwei Jahren den ehemaligen Stuntleuten Chad Stahelski und David Leitch mit „John Wick". Die Story um einen berufsmüden Auftragskiller, den ein ermordeter Welpe und ein gestohlener Mustang (also das Auto, nicht der Gaul) wieder auf den Kriegspfad schickten, war narrativ ein puristischer Actionreißer nach Schema F, optisch und choreographisch aber eine enorm stilisierte, mythologisch aufgeladene Racheparabel. Das hatte nicht nur Wumms, sondern auch Style und Atmosphäre. Ganz nebenbei gelang es zudem, dem fast schon in Vergessenheit geratenen Keanu Reeves nach „Speed" und „Matrix" eine dritte ikonische Actionrolle auf den drahtigen Leib zu schreiben und ihn nun endgültig im Genre-Olymp aufzunehmen.
Überraschungscoups wie diese können allerdings ihrem ebenfalls in Stein gemeißelten Schicksal nicht entfliehen, welches lautet: Sequel! „John Wick 2" war nach den ehernen Gesetzen des Marktes so sicher wie die Auslöschung sämtlicher seiner Gegner im Vorgänger. Die Simplizitätsgefahr ist damit aber auch exponentiell gestiegen. Schließlich hat sich an John Wicks Ruhestandsplänen nichts signifikant geändert. Also muss ein neuer Anreiz zur Rückkehr ins Berufsleben her. Wer will schon dem guten Wick dabei zusehen, wie er Espresso schlürfend vor dem Kaminfeuer den nächsten Köter grault. Nun, soweit lässt es Stahelski (Regiepartner Leitch hatte diesmal nur Zeit für Beratung) zum Glück nicht kommen. Clever schwingt er sich auf das einzig ausbaufähige Versatzstück des Originals und marschiert von dort aus schnurstracks ins Herz einer kunstvoll arrangierten Finsternis.
Stahelski führt den faszinierten Zuschauer also in die Geheimnisse der bereits in Teil 1 lediglich angedeuteten Parallelwelt ein, in der sich Killer und Gangster aus aller Welt einem strikten Kodex unterwerfen müssen, wollen sie von den gebotenen Annehmlichkeiten profitieren. Die überall verstreuten Continental Hotels sind gewissermaßen „heiliger Boden", auf dem es kein Blutvergießen geben darf. Sie sind aber nicht nur ein luxuriöses Refugium für exklusive Mitglieder, sondern bieten auch ganz spezielle Sonderleistungen im Bezug auf Waffen, schusssichere Kleidung und was man sonst noch so alles als Killer der Oberklasse für den Arbeitsalltag benötigt. Jeder nur erdenkliche Wunsch oder Service ist machbar, sofern man genug von der organisationsinternen Währung aufbieten kann.
Wer sich allerdings nicht an die Regeln hält, wird exkommuniziert und zum Abschuss frei gegeben. Die Konnotationen sind offensichtlich. Die Organisation gleicht einem strengen religiösen Orden, deren Mitglieder an strikte Gelübde gebunden sind. Nur mit der Askese ist es nicht allzu weit her, da orientiert man sich lieber an englischen Nobelclubs.
John Wick würde diesem ritualisierten Schattenreich gern den Rücken kehren, aber auch hier gilt die alte Gangsterfaustregel: raus kommst du nur als Toter. Der New Yorker Mafia-Pate Santino (Ricardo Scarmarcio) fordert von Wick eine alte Blutschuld ein. Der weigert sich zunächst den Mordauftrag auszuführen - das Opfer ist nicht nur Santinos Schwester Gianna (Claudia Gerini), sondern auch eine alte Freundin Wicks -, aber die völlige Zerstörung seines Anwesens stimmt ihn relativ schnell um. Also macht er sich auf den Weg nach Rom, wo Gianna in den Katakomben eine mondäne Party schmeisst. Doch dort tummeln sich nicht nur ausgesuchte Gäste, sondern auch ihre eigene, kleine Privatarmee ...
Schon im ersten Film glich John Wicks Rachefeldzug einem rhythmischen Totentanz, einem mit gnadenloser Präzision aufgeführten Ballett des Eliminierens. Im zweiten Kapitel bekommt das Ganze noch einen barocken, gemäldeartigen Anstrich, der im krassen Gegensatz zur heute gängigen Actioninszenierung steht. Stets hat man als Zuschauer einen Panoramablick auf Wicks tödliches Treiben, keine schnellen Schnitte, oder verwackelten Bilder trüben das genüsslich ausgebreitete Gesamtbild. Im Zusammenspiel aus Wicks kantigen Bewegungen, dem wummernden Elektro-Score und discoähnlichen Licht-Schatten- bzw. Farbspielereien entsteht eine faszinierend artifizielle Stimmung, die die durch Plot und Figuren vorangetriebene Mythenbildung auch durch Action sichtbar und spürbar macht. Die Symbiose zwischen hoch technisierter Moderne und einer symbolträchtigen, imperialen Vergangenheit prägt sämtliche Bereiche. Am augenfälligsten wird dies bei den Settings (antikes Rom und futuristische New Yorker U-Bahnstationen), Interieurs (Wicks Chrom-Glas-Luxusvilla und die von Leder und Gold dominierten Continental Hotels) und Accessoires (HiTech-Waffen und Goldmünzen). Die metaphorischste Szene ist dabei das zweite Treffen zwischen Wick und Santino, bei dem sich die beiden in einer hochmodernen Galerie vor einem riesigen Schlachtengemälde sitzend den Tod versprechen.
Diese perfekt durchgestylte Ästhetik gipfelt schließlich in einem Neon-beleuchteten Spiegelkabinett, das zum einen mit der visuellen Wahrnehmung des Zuschauers spielt und darüber hinaus aber auch noch den geradezu zelebrierten Primat der Optik fast schon ironisch bricht. Ein kunstvoller Kniff, der „John Wick 2" nicht nur deutlich vom Gros der Genrekollegen abhebt, sondern auch den hier etwas zurückhaltender angelegten Vorgänger übertrifft.
Ist „Chapter 2" deshalb ein Kunstfilm für einen elitären Arthouse-Zirkel? Nein, was nicht heißt, dass die Klientel durchaus mal einen Blick riskieren könnte. Stahelski verliert den Action-Fokus nie aus den Augen und zeigt v.a. in der direkt an Teil 1 anschließenden Auftaktsequenz, dass er sein filmisches Handwerk mindestens so ernst nimmt, wie John Wick seine tödliche Profession. In einem 10-minütigen Parforceritt dringt Wick in den Komplex des russischen Gangsterbosses (wer sonst als Peter Stormare) ein, dessen Bruder sein Auto gestohlen hatte. Der Mustang dient dort nicht nur als Fluchtauto, sondern wird auch als Rammbock, Schlaginstrument und Geschoss zweckentfremdet.
Dieser infernoartige Beginn erlaubt es Stahelski dann zwei Gänge zurück zu schalten und seine Parallelwelt-Leinwand auszurollen, ohne dabei Gefahr zu laufen, sein Publikum zu verlieren. Und das nicht so sehr, weil man nach dieser tornadoartigen Druckwelle eine kleine Pause bräuchte. Nein, aber man akzeptiert sie bereitwillig, weil Stahelski hier etwas sehr überzeugend versprochen hat und zwar laut und unmissverständlich: Dieser John Wick ist ein Orkan, wehe dem, der meint sich dem entgegen stellen zu können. Und dieses Versprechen wird eingelöst.
Die zweite Filmhälfte verlangt John Wick alles ab, denn die Erledigung des Mordauftrages ruft nicht nur die Leibgarde des Opfers auf den Plan, sondern auch Santinos Schergen. Schließlich darf man den Mord an der eigenen Schwester nicht ungesühnt lassen. Diesen Zweifrontenkrieg führt Wick im bewährten Terminator-Modus, soll heißen er pflügt durch die Gegnerschar wie ein Mähdrescher, nur dass danach garantiert gar nichts mehr wächst. Und wenn die Schusswaffen allesamt leer geschossen sind, dann tut es auch jeder greifbare Alltagsgegenstand, sofern er spitz, scharf, oder grob genug ist. Wieder wird dabei Stahelskis Vorliebe für das Hongkong-Kino deutlich und auch die ein oder andere „Matrix"-Verbeugung ist unübersehbar. Apropos „Matrix", Stahelski war seinerzeit nicht nur Reeves Stuntdouble, sondern auch maßgeblich an den Kampfchoreographien beteiligt. Und auch wenn Stahelski die Brücke nicht bewusst geschlagen haben will, aber dass ausgerechnet „Morpheus" Laurence Fishburne als New Yorker König der Bettler dem zum Freiwild erklärten John Wick Unterschlupf und Schutz gewährt, ist einfach ein zu schöner „Matrix"-Injoke, um nicht wahr zu sein.
Man darf gespannt sein, wie Stahelski seine innovative Gewaltorgie in die deutlich angekündigte dritte Runde schicken wird. Der unfreiwillige Wandel vom Rächer zum Gejagten ist schon mal kein dummer Ansatz, denn Aktion und Reaktion sind sehr unterschiedliche Variablen desselben Spiels. Die Grundformel wird davon freilich nicht tangiert. Dennoch, eine simple Wiederholung von visuellem Style und mythologischer Substance wäre schon eine veritable Enttäuschung. Schließlich hat „John Wick: Chapter 2" eines bewiesen: Formelhaftigkeit und Originalität müssen sich nicht zwingend ausschließen. Jedenfalls nicht auf allen filmischen Ebenen. Klingt kompliziert, ist aber einfach. Einfach wahr.