Review

Season 1

Season 1

Während Marvel den Cosplay-Kitsch rund um Heldenposen und stylishe Superhelden-Berufskleidung in seinen großen Kinoblockbustern und den überwiegend seichten Fernsehserien fürs Heimkino weiterhin salonfähig hält, betreibt es in seinen unscheinbareren Produktionen tastend schon mal Vorsorge für die Zeit nach dem großen Knall... falls strahlende Weltenretter in bunten Effektspektakeln sich irgendwann nicht mehr an den Mann bringen lassen sollten. Ob man dabei besser beraten ist, selbstironisch das eigene Vermächtnis auf die Schippe zu nehmen („Deadpool“) oder nicht doch lieber mal einen frischen Genre-Ansatz ausprobiert („The New Mutants“), wird gerade live auf dem Markt getestet.

Völlig neben der Spur läuft „Legion“, eine in der ersten Staffel achtteilige TV-Produktion, die ihren Comic-Hintergrund komplett hinter einer experimentierfreudigen Avantgarde-Verkleidung versteckt. Wer die gleichnamige Comicfigur nicht gerade beim Namen kennt, könnte höchstens durch das vorangestellte „Marvel“-Logo und vielleicht noch das „X“ im „O“ aus dem Titelschriftzug darauf kommen, dass die ganze Angelegenheit irgendwas mit den X-Men-Comics zu tun haben könnte. Halsbrecherische Serienväter wie Bryan Fuller („Hannibal“, „American Gods“) taugen als Vergleichsobjekt zeitgenössischer Unterhaltung jedenfalls weit mehr als jede x-beliebige Superhelden-Show, die momentan im Fernsehen oder auf hiesigen Streaming-Portalen läuft. Hätte sich eine konventionelle Fließbandserie der Schizophrenie der Hauptfigur wohl von außen genähert und sie zum Vorwand genommen, um anschließend mit sauberen Spezialeffekten die Chips- und Popcorn-Tüten feierlich poppen zu lassen, wagt „Legion“ den tollkühnen Tauchgang in den Surrealismus. Erzählt aus der Perspektive der Hauptfigur, kann man nichts und niemandem trauen - den Informationen aus den Dialogen nicht und schon gar nicht den Bildern.

Die Ausstattungswut dieser visuell extravaganten Serie reicht zurück bis in die 60er Jahre, was soweit führt, dass man sich kaum traut, den Zeitraum zu bestimmen, in dem sich alles abspielt. Die britische TV-Serie „Nummer 6“ (Produktionsjahr 1967) könnte unter anderem Pate gestanden haben für die Interieurs und überhaupt die allgemeine Verunsicherung, die einen Großteil der Atmosphäre bestimmt; auch die „12 Monkeys“ haben sicherlich Eindruck hinterlassen. Hauptdarsteller Dan Stevens beobachtet mit rollenden Augen und einer pendelnden Grimasse zwischen gellender Angst und blinder Euphorie, wie in seiner psychiatrischen Anstalt Türen verschwinden, sich ganze Grundrisse verändern, Dekoration und Kulisse ausgetauscht werden, ja selbst die Farbfilter neue Schattierungen annehmen. Die Charaktere, mit denen er interagiert, sind in der nächsten Szene nicht mehr unbedingt dieselben, die sich mit ihm gerade noch freundlich unterhalten hatten; fest steht nur, irgendwo in ihm drin existieren ungewöhnliche Kräfte, die das Interesse einer Gruppe mit unbekannten Absichten geweckt hat.

Der ausstrahlende Sender FX ist wahrlich furchtlos. Immerhin wird hier ein Eiswürfel besucht, der als Kulisse für eine Astralebene herhält und zum Schauplatz von Philosophie und Karaoke wird. Menschen bleiben in Wänden stecken. Ein Mann im Tauchanzug verführt dazu, ihm durch ein Portal zu folgen. Die Zeit wird auf einer bestimmten Ebene zur Superzeitlupe verlangsamt und zum Kern zukünftiger Handlungen erklärt. Ein riesiges Paar Augen manifestiert sich per Überblende mitten in einem Wohnzimmer, als stünden wir mitten in einem übernatürlichen Giallo. Der Supervillain, Shadow King, hockt nicht etwa auf seinem Thron und wartet passiv auf die Ankunft des Helden, sondern sucht als deformierte Gestalt mit gelben Augen in fiebrigen Alptraumsequenzen immer wieder aktiv nach seinen Widersachern.

Und dennoch wird in der furiosen Mixtur aus verzerrtem Szenenbild, ausgefallener Garderobe, dissonantem Schnitt und wandlungsreichem Schauspiel das Erzählen nicht vernachlässigt, auch wenn es wie im Stakkato an die Oberfläche dringt. Bewundernswert ist es, dass man nie dem konventionellen Erzählen nachgibt. Viele Serien beginnen ungewöhnlich und enden in bekannten Mustern. Diese bleibt ein formelles Wagnis von Anfang bis Ende.

Ob nun Comic-Hintergrund oder nicht: Völlig egal. „Legion“ hätte auch als einfaches Schizophrenie-Drama mit übernatürlichen Elementen hervorragend funktioniert. So ist es nun eben die vielleicht interessanteste Comic-TV-Adaption überhaupt. Dass eine zweite Staffel schon bestätigt wurde, ist ebenso unerwartet wie erfreulich.
(8/10)

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