Mit der Mystery-Serie „the OA“ (2016) hat das Streaming-Portal „Netflix“ einmal mehr seinen Sinn für Qualität und Mut bewiesen, ungewöhnliche, sich von den Sehgewohnheiten und Konventionen sonst üblicher TV-Kost abhebende Projekte zu realisieren. Mitproduziert von Brad Pitt und seiner „Plan B“-Schmiede, welcher die „Producers Guild of America“ passenderweise 2015 den „Visionary Award“ für Kreativität und Innovationen in der Unterhaltungsindustrie verlieh, sprach man den „Showrunnern“ Brit Marling und Zal Batmanglij für die Umsetzung dieses nur wenig massentauglichen Werks das volle „künstlerische Vertrauen“ aus, nachdem sie bereits seit 2012 an seiner Entwicklung tätig gewesen waren. Gemeinsam hatte das geschätzte „Indie-Duo“ zuvor schon die beiden Spielfilme „Sound of my Voice“ (2011) und „the East“ (2013) erschaffen – u.a. mit ihm als Regisseur, ihr als Hauptdarstellerin sowie auf kooperativ verfassten Drehbuch-Vorlagen basierend. Clever, komplex, bedachtsam, atmosphärisch und Genre-übergreifend, trägt das präsentierte Ergebnis sowohl inhaltlich als auch stilistisch unverkennbar ihre „Handschrift“ – und so besteht diese „ihrem ganz eigenen Rhythmus folgende“ erste Staffel aus acht in ihrer Lauflänge zwischen über einer Stunde und nur knapp 30 Minuten variierenden Episoden, welche es hier fortan nun zu besprechen gilt…
Vor sieben Jahren ist die blinde Prairie Johnson spurlos verschwunden – bis plötzlich ein per Smartphone aufgenommenes Video im Internet auftaucht, das eine junge Frau (Marling) zeigt, wie diese von einer Brücke springt. Sie überlebt, kommt in eine Klinik und wird seitens Prairie´s Adoptiveltern (Alice Krige und Scott Wilson) aufgesucht, die sie zweifelsfrei als ihre Tochter identifizierten. Die Sache ist bloß: Prairie kann inzwischen sehen. Die Presse nennt sie (bzw. diese Gegebenheit) „the Michigan Miracle“; sie selbst schweigt über das, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Ihr Körper weist etliche Narben in der Form spezieller Symbole auf; man geht davon aus, dass sie Traumatisches erfahren hat. Sie beharrt darauf, dass der Sprung kein Suizid-Versuch war, möchte von ihrer Umgebung „the OA“ genannt werden und darf schließlich nach Hause zurückkehren – wo ihre Eltern sie so gut wie möglich zu schonen sowie von neugierigen Nachbarn und Medienvertretern abzuschirmen bemühen. Nachts leidet sie unter sie aufwühlenden Albträumen – jedoch weigert sie sich lange, bspw. selbst nur einen Termin mit einem ihrem Fall zugeteilten FBI-Therapeuten (Riz Ahmed) zu vereinbaren. Eines Tages schleicht sie sich unbemerkt nach draußen und lernt dabei den Jugendlichen Steve (Patrick Gibson) kennen, mit dem sie kurzerhand einen besonderen „Deal“ eingeht…
Seines Zeichens ein impulsiver „Hitzkopf“, droht Steve aufgrund einer Tätlichkeit ein Schulverweis, nach welchem ihn sein Vater gewiss auf eine Militärakademie schicken würde. Prairie hilft ihm, das (zumindest vorerst) zu klären – und im Gegenzug trifft er sich mit ihr sowie vier anderen Personen am späteren Abend in einem leeren Rohbau, wo sie ihm, den Teens Jesse (Brendan Meyer), Buck (Ian Alexander) und French (Brandon Perea) sowie der High-School-Lehrerin Betty (Phyllis Smith) ihre Geschichte zu erzählen beginnt. Sie berichtet davon, in Russland als Kind eines reichen Geschäftsmanns (Nikolai Nikolaeff) geboren worden zu sein – bevor sie ihr Augenlicht bei einem Anschlag auf ihr Leben verlor sowie anschließend außer Landes (in Sicherheit) gebracht wurde. Adoptiert von den Johnsons – welche von all dem nichts wissen – wuchs sie also geliebt und behütet in den Staaten auf. Als sie dann mal heimlich allein nach New York reiste – in der Hoffnung, dort ihren Vater wiederzutreffen – geriet sie stattdessen in die Fänge des Wissenschaftlers Dr. Hap (Jason Isaacs), der sie verschleppte und zu drei weiteren jungen Erwachsenen mit ähnlichen Nahetod-Erfahrungen in eine Art unterirdisches „Terrarium“ sperrte, um sie dort in ungestörter Ruhe zu studieren sowie sie bestimmten selbst konzipierten Experimenten zu unterziehen…
Bereits der Start-Episode von „the OA“ dürfte es effektiv gelingen, innerhalb des Publikums die sprichwörtliche „Spreu vom Weizen“ zu trennen: Sich über 70 Minuten erstreckend, erfährt der Titel seine Einblendung nicht vor der 57. – sozusagen als Hinweis darauf, dass die „Einleitung“ nun vorüber ist. Die Orientierung des Zuschauers wird u.a. durch diverse verschiedene Figuren und Plot-Stränge erschwert, die allesamt Fragen aufwerfen: Auf welchen „Bahnen“ sich das Ganze weiterentwickeln wird, vermag man angesichts immer neuer (unerwarteter) Preisgaben einfach nicht klar abzusehen. Steve z.B. wird als jemand in die Story eingeführt, der seine Aggressionen nicht unter Kontrolle hat, mit Drogen dealt und bei ihrer ersten Begegnung sogar seinen Kampfhund auf Prairie hetzt – deren eigenwilliges, vermutlich aus dem Widerfahrenen resultierendes Verhalten es wiederum erschwert, konkrete Sympathien für sie zu generieren. Natürlich ändert sich das noch – doch manchen dürfte es an der notwendigen Geduld mangeln. Zu einer der frühen Überraschungen gehört die ausgiebige Rückblende ins winterliche Russland – inklusive eines Vaters, der seine kleine Tochter „zur Abhärtung“ ins eisige Wasser eines ansonsten zugefrorenen Sees setzt, sowie eines Anschlags auf einen Schulbus, bei welchem alle Kinder bis auf Prairie getötet werden…
Prairie ist einfühlsam, beseelt und verfügt über die Befähigung, beruhigend auf ihr Umfeld (Menschen und Tiere) einzuwirken. Sie vereint eine Gruppe Außenseiter um sich herum und eröffnet ihnen „kapitelweise“ die prägnantesten Ereignisse ihres in der gegenwärtigen Lage gemündeten Werdegangs. In Manhattan wurde Hap auf sie aufmerksam, als er sie in einer U-Bahn-Station Geige spielen hörte. Bei einem Essen erläuterte er ihr sein Forschungsgebiet und erweckte ihr Interesse, zusammen mit einigen anderen bei einer entsprechend ausgerichteten Studie mitzuwirken – worauf sie ihn in sein abgelegenes, über einen einstigen Minenschacht errichtetes Haus in einer bewaldeten Region begleitete, in dessen „Souterrain“ er sie fortan in einem „gläsernen Käfig“ gefangen hielt. Dieses Schicksal teilte sie mit Homer (Emory Cohen), Scott (Will Brill) und Rachel (Sharon Van Etten), welche in der Vergangenheit ebenfalls jeweils mal „tot“ gewesen waren. Es dauerte lange, bis sie lernten, sich gegenseitig in ihrer Bredouille zu unterstützen – im übertragenen Sinne eine Parallele zur Gegenwart, denn jeder der betroffenen Vier hat eigene (private, familiäre, schulische) Probleme zu bewältigen: U.a. verstarb Betty´s Bruder kürzlich, ist Buck ein „Transgender“ und leidet French an dem Gebaren seiner Mutter, während er selbst gerade seine berufliche Zukunft zu definieren bzw. aktiv in die Wege zu leiten versucht…
Letztere leben – so wie auch Prairie´s Eltern – in einem typisch amerikanischen Städtchen, welches jedoch keine „Spielberg-sche Vorort-Idylle“ offeriert, sondern neben einigen unfertigen Bauprojekten nicht unbedingt viele glückliche Bewohner jener vorwiegend schönen, geräumigen Gebäude aufzeigt (Scheidungen, monetärer Druck etc.). Hinzu kommen spärliche soziale Kontakte, Unsicherheiten und fehlende Perspektiven. Prairie regt ihre Neugier und Vorstellungskraft an – lässt Verbundenheit und ein gemeinsames Ziel entstehen. Vereinzelte Vergleichbarkeiten mit der Serie „Stranger Things“ – welche „Netflix“ übrigens simultan in Auftrag gab und in einer Szene hier gar flüchtig im Hintergrund im TV laufend zu erspähen ist – sind durchaus existent. Ähnlich wie Maggie in „Sound of my Voice“ lassen Prairie´s Ausführungen ihre Zuhörer gebannt ihren Schilderungen lauschen – u.a. von dem mehrjährigen Alltag in der Gewalt Haps, dessen Obsession mit dem „Jenseits“ sowie seiner aus eben jenem Kontext heraus entworfenen Apparatur, an der er seine „Test-Personen“ immer wiederkehrend festschnallt: Ein quasi verwandtes Vorgehen wie in „Flatliners“ – vorliegend allerdings unter Zwang. Mit Elementen wie Entführungen und Entkommens-Bestrebungen bietet dieser Bereich der Story dem Publikum einige klassische wie spannende „Thriller-Momente“…
Bereits früh berichtet Prairie von ihren Impressionen aus der „Zwischenwelt“, in der sie u.a. auf eine mystische, in einem schwarzen, von funkelnd-leuchtenden Sternen umgebenen sowie mit „Schwebepartikeln“ durchsetzen „Raum“ neben so etwas wie einem Brunnen hockende Dame (Hiam Abbass) trifft, welche ihr die Wahl überlässt, erneut ins „Diesseits“ zurückzukehren oder (bspw.) zu ihrem inzwischen verstorbenen Vater „weiterziehen“ zu können. Die gewählte Gestaltung sowie präsentierten transzendenten, spirituellen, esoterischen und religiösen, existenziell-philosophische Fragen beinhaltenden Komponenten verleihen dem Werk noch stärker als ohnehin schon das Prädikat „Geschmackssache“. Aber hat Prairie das alles tatsächlich erlebt, was sie da erzählt – oder sind es wohlmöglich bloß die verqueren Gedanken eines traumatisierten Opfers, dessen Geistes- und Seelenzustand diese „Phantasien“ erschaffen hat, um den erfahrenen „realen Horror“ zu übertünchen? Ist sie in gewisser Weise eventuell also ein „Unreliable Narrator“, der dringend therapeutische Hilfe benötigt? Konfrontiert mit manch einer scheinbaren Widersprüchlichkeit – ebenso wie mit Beschreibungen von „Wundern“ und genutzten Begriffen wie „Engel“ – bleiben Zweifel nicht aus. Der Wille, ihr zu glauben, ist allerdings fest vorhanden: Das vereint sie und erweckt beherztes Engagement…
Wie es nicht anders zu erwarten war, meistert Brit Marling die Hauptrolle mit einer innigen Performance, welche Prairie´s Körpersprache und Charakterzüge (inklusive ihrer Irritationen, Verletzlichkeit und Entschlossenheit) überzeugend vermittelt. Generell liefert die gesamte Cast gute Leitungen ab: Vor allem Alice Krige („Star Trek: First Contact“) und Scott Wilson (TV´s „the Walking Dead“) als „emotional aufgewühltes“ Elternpaar, Patrick Gibson („Cherry Tree“) als „troubled Teenager“, Phyllis Smith (TV´s „the Office“) als traurig-introvertierte Lehrerin und Jason Isaacs („Fury“) als ambivalent-bedrohlicher Forscher. Einige Nebenparts haben indes nicht genügend „individuellen Raum“ innerhalb der Handlung zugeschrieben erhalten, um einen wirklich „bleibenden Eindruck“ hinterlassen zu können – unter ihnen Will Brill („the Eyes of my Mother“), Newcomer Ian Alexander, Emory Cohen („the Gambler“), Musikerin Sharon Van Etten, Brendan Meyer („the Guest“) und Brandon Perea („Dance Camp“). Zudem sind u.a. noch Riz Ahmed („Jason Bourne“), Nikolai Nikolaeff („Crawlspace“), Hiam Abbass („Munich“) und Paz Vega („Spanglish“) mit von der Partie. Letztere spielt eine von Hap verschleppte Kubanerin, deren (spätere) Integration in die Runde plötzlich eine potentielle „Flucht-Chance“ mit sich bringt – denn genau dafür müssen sie exakt zu fünft sein…
Batmanglij ist seinem bisherigen (ruhigen, gediegenen) inszenatorischen Stil treu geblieben – worüber hinaus die in Verbindung mit dem Score und der meist in „ausgewaschenen“ Farbtönen gehaltenen Bebilderung Lol Crawleys („Mandela: Long Walk to Freedom“) kreierte Atmosphäre „kühl“ und stimmig daherkommt. Seitens der sich non-linear entfaltenden, permanent zur Enträtselung anregenden Geschichte werden dem Betrachter eine Fülle an Dialogen, Informationen, Geheimnisse, Überraschungen und Eigensinnigkeiten geboten: Langatmig oder vorhersehbar wird es dabei allerdings nie. Vereinzelte ein wenig prätentiös oder unfreiwillig komisch anmutende Augenblicke sind zu vernachlässigen – á la wenn die Agierenden eine Abfolge bizarrer tänzerischer Bewegungen ausführen, welche man eingangs noch für lächerlich erachten mag, deren finale Darbietung einen dann aber doch unweigerlich „bewegt“. Obgleich der Ausklang dieser Staffel nicht an die hohe Qualität des Einstiegs heranreicht – primär da einem die (ohnehin kürzesten) Episoden sieben und acht geringfügig „zu überhastet“ geartet vorkommen – stellt der Schluss an sich weitestgehend zufrieden – klärt allerdings nur bedingt auf, regt zu reflektierendem Nachdenken an und bekräftigt überdies den Wunsch nach einer Fortsetzung, die glücklicherweise auch schon in Auftrag gegeben wurde…
Fazit: „the OA“ (Season 1) ist eine vielschichtige, ambitionierte, reizvoll-unkonventionell-kreative, mehrere Genres und Dimensionen übergreifende dramatische Mystery-Serie für eine ausgewählte Zuschauerschaft abseits des Mainstreams…
starke „7 von 10“