64 Spielfelder (A1 bis H8), 32 Figuren, davon 16 weiß und 16 schwarz, pro Team acht Bauern, zwei Türme, zwei Springer, zwei Läufer sowie eine Dame und ein König. Schach - für die einen eine der schönsten denkbaren Freizeitbeschäftigungen, für die anderen der wohl langweiligste Sport der Welt. Obwohl man es kaum glauben will: In mancherlei Hinsicht gibt es zwischen Schach und dem beliebtesten Volkssport der Deutschen, Fußball, einige wenige Schnittpunkte: Beide Sportarten haben eine Spielfläche, auf der man sich austoben kann, und beide haben ein großes Ziel: Beim Fußball muß der Ball ins Tor gesetzt werden, beim Schach der König Matt. Der entscheidende physische Unterschied: Fußball ist gut für den Körper und die Muskeln, Schach gut für das eingerostete Gehirn.
Auch filmisch ist die Sachlage klar: Fußballdokumentationen können aufgrund der Tatsache, daß eine Fußballpartie immer mindestens 90 Minuten dauert und es nicht gleich beendet ist, sobald ein Tor gefallen ist, wahnsinnig spannend gestaltet werden (man denke an die Berichte über das Wunder von Bern 1954, dem 3:2 Deutschlands gegen die jahrelang ungeschlagenen Ungarn nach 0:2-Rückstand), während zwei Menschen, die sich stundenlang an einem Schachbrett gegenübersitzen und angrübeln, um dann nach langer Überlegung eine Figur ein paar Zentimeter vor- oder zurückzusetzen, schwerlich abendfüllend darzustellen ist.
Umso schöner, wenn es dann doch jemand versucht: Die Niederländerin Esmé Lammers, die Enkelin des Schachweltmeisters Max Euwe, schrieb 1995 das Drehbuch zu „Lang lebe die Königin“ und führte dabei zugleich Regie. Der Kinderfilm, der daraus entstand, ist ein wahrhaft zauberhafter, der das Kunststück fertig bringt, einem Unkundigen einerseits spielerisch die wesentlichen Züge beim Schach beizubringen und andererseits das Spiel selbst geschickt die Handlung vorantreibend einzusetzen. Dafür bekam sie zu Recht den Cinekid Film Award und den Montgomery Prize. Das erkannten immerhin auch die Öffentlich-Rechtlichen und bescherten dem Film in den vergangenen Jahren am frühen Morgen mehrere Ausstrahlungen, wechselweise die kompletten zwei Stunden am Stück sowie als Zweiteiler.
Als Hauptfigur gibt Lammers dem Zuschauer die achtjährige Sara (Tiba Tossijn) an die Hand, die mehr schlechte als rechte Leistungen in der Schule erbringt. Der Grund: Sie ist ein echtes Träumerle, das sich nichts sehnlicher wünscht, endlich ihren unbekannten Vater kennenzulernen. Von den anderen Mitschülern gemieden, ist ihr einziger Freund der gesundheitlich schwächliche Neuankömmling Victor (René Nijman), der es schafft, bei ihr die Faszination für Schach zu wecken. Dadurch wird ihre bunte Gedankenwelt jedoch nur noch weiter angeregt, und sie träumt sich in das Reich der weißen Königin (Monique van de Ven), die an der schlechten Laune ihres gelangweilten Mannes (Jack Wouterse) verzweifelt. Der möchte immer nur Krieg gegen den schwarzen König und dessen Belegschaft führen. Es bräuchte also jemanden, der ein Spiel erfindet, um ihn aus der Lethargie zu holen. Eine Aufgabe für Sara.
Lammers hat keine Mühe, Sara für den Zuschauer sympathisch zu machen. Sara ist das süße Mädel, wie es sicherlich jeder mal in seiner Klasse hatte, rettungslos verträumt, Außenseiter, von seiner kindlichen Umwelt gern von oben herab behandelt, als könne es den anderen eh nicht das Wasser reichen. Ihr Klassenlehrer, vordergründig besorgt um sie und ihr Nachhilfe gebend, kann ebenso wenig wie die leicht überforderte Mutter (Lisa de Rooy) ihre Schale knacken und steckt sie gedanklich schnell in die Schublade der hoffnungslosen Fälle zu den vielen anderen schwachen Schülern, die er in seinem Leben wohl schon hatte. Saras Freund Victor ist da sozusagen ihr kleiner Rettungsanker, das willkommene Auffangbecken für ihre blühende Phantasie, in seiner ebenfalls zurückhaltenden nüchternen Art als Ruhepol unglaublich wertvoll für sie. Von ihm und seinem Vater wird sie so akzeptiert, wie sie ist, dort fühlt sie sich wohl.
Wenn sie allein ist, findet sie Zuflucht in ihrer eigenen versponnenen Welt, in der dennoch nicht ein einziger Spezialeffekt verwendet wird und auch nicht nötig ist. Dort bringt sie mit ihrer dazugewonnenen Stärke, dem Schachspielen, frischen Wind in den eingestaubten Laden und hält als junges Ding eine Horde Erwachsener ordentlich auf Trab, weil sie Ahnung von einer Sache hat, die keiner außer ihr beherrscht. Ihre Mentorin ist die weiße Königin, die ihr die Zuneigung kommen läßt, die sie von ihrer Mutter derzeit nicht so erhält, wie es nötig ist. Dort muß sie sich nicht um lästige Pflichten wie Schulaufgaben kümmern, dort gibt es keinen Leistungsdruck, dort kann sie das tun, wozu sie Lust hat, und alle haben sie Spaß, sogar der griesgrämige König verwandelt sich in ein sonnigeres Gemüt. So lehrt Sara der weißen und der schwarzen Seite in der Halle des weißen Königreichs ein neues Spiel. Dabei bekommt der Laie einen Einblick in die Schachspielregeln und kann sich sogar nebenbei das schnellste Schachmatt abgucken, das möglich ist.
Einfühlsam und federleicht, mit nur kleinem Spannungsbogen, zeichnet Lammers ein Porträt dieses Mädchens und bringt Schach dann auch gewinnbringend auf der Realitätsebene ein, als der Schachweltmeister höchstpersönlich in die Stadt kommt, um gegen einige Ausgewählte simultan Partien zu spielen, darunter auch Schüler. Dies geht aber nur über die Qualifikation im direkten Duell gegen den Klassenlehrer. Hier zahlt es der Film den kleinen Antagonisten (echte Bösewichte gibt es natürlich nicht) mit der nötigen Portion Genugtuung heim, wenn der hochnäsige Lehrer ihr aufgrund ihrer schulischen Leistungen das Schachspielen erst verbietet, um schließlich darin von ihr geschlagen zu werden, doch auch wenn das bedeutet, daß sie gegen den Weltmeister antreten darf, wird Sara zum Schluß gleich mehrfach erkennen, daß es im Leben so viel Wichtigeres gibt als ein blödes Spiel.
Lehrreich kommt „Lang lebe die Königin“ daher und verteilt laufend leise Botschaften an seine junge Zielgruppe, überzeichnet nie und verzichtet auf Schwarzweißmalerei selbst bei den Nebenfiguren, bleibt glaubwürdig und stets sanft amüsant, ohne auf bloßen Klamauk-Kladderadatsch ausweichen zu müssen und an den sentimentalen Stellen zu dick aufzutragen. Dieser Film ist ohne Leerlauf auf den Punkt hin inszeniert und verbreitet dabei noch großartige Stimmung. So müssen Kinderfilme sein, dann kann auch ich als Mittzwanziger noch mitgerissen werden. Bravo, Frau Lammers, ich bin wirklich begeistert. Auch für Schachmuffel. 9/10.