Nach einer wahren Begebenheit: Der fünfjährige Inder Saroo klettert in einen leeren Zug und findet sich nach einer zweitägigen Fahrt im etwa 1600 Kilometer von seinem Heimatort entfernten Kalkutta wieder, wo eine für ihn fremde Sprache gesprochen wird. Nachdem er eine Zeit lang auf der Straße gelebt hat, bringt man ihn schließlich zur Polizei, die seine Familie nicht ausfindig machen kann. Daraufhin wird er von einem australischen Ehepaar adoptiert, das ihn in Tasmanien aufzieht. Als junger Mann, jetzt von Dev Patel gespielt, quälen ihn zunehmend die Gedanken an seine indische Familie, die sich womöglich immer noch um den verlorenen Sohn sorgt. Die Suche nach seiner Heimat via Google Earth wird zur regelrechten Manie.
Saroo Brierley, als Kind in Indien verschollen und in Tasmanien aufgewachsen, suchte mehrere Jahre in den Weiten Indiens mittels Google Earth, Youtube und Facebook nach seinem Heimatort, nach seiner Familie. Seine einzigen Hinweise: Ein paar Kindheitserinnerungen, ein Radius von mehr als tausend Kilometern um Kalkutta, der Streckenverlauf einiger Zugverbindungen an denen unzählige Bahnhöfe liegen. Und - wie der Titel des Films bereits suggeriert - er sollte seine Heimat finden. So schön und unglaublich diese Geschichte auch klingt, so war im Vorhinein doch unklar, ob sie auch ausreichen würde, um die Laufzeit von rund zwei Stunden zu füllen. Doch das ist dem australischen Regisseur Garth Davis nach Vorlage des von Saroo Brierley persönlich verfassten autobiographischen Romans „A Long Way Home“ hervorragend gelungen.
„Lion“ ist ein rührendes Feel-Good-Movie, das sich stets genau an den richtigen Stellen Zeit nimmt, um in das Seelenleben seiner Hauptfigur einzutauchen. Wenn in der zweiten Filmhälfte das Verlangen des in seiner frühen Kindheit gänzlich entwurzelten jungen Mannes immer größer wird, sein Heimatdorf in Indien zu finden, lädt „Lion“ zur Reflexion über Heimat, Herkunft und Familie ein und macht die manische Suche des Protagonisten verständlich. Die Lebensgeschichte von Saroo Brierley wird dabei chronologisch und mit größeren zeitlichen Sprüngen erzählt, ohne, dass es dabei dramaturgisch allzu sehr harkt. Dabei hätte man insbesondere über den traumatisierten Adoptivbruder allerdings gern mehr erfahren.
Davis liefert viele Emotionen, baut mit dem einfühlsamen, von Pianoklängen getragenen Score eine gefühlvolle Atmosphäre auf und setzt immer wieder dramaturgische Höhepunkte, die unter die Haut gehen. Dazu gehören vor allem die Aussprache Saroos mit seiner australischen Mutter, in der er von seiner Suche erzählt und die Sequenz, in der er von seinen Kindheitserinnerungen bei einem indischen Dinner regelrecht überwältigt wird. Packend ist aber auch schon der Beginn des Films, wenn der junge Saroo allein und verängstigt durch ein schön fotografiertes und in satte Farben getauchtes Indien irrt. Überhaupt kann Davis attestiert werden, hier einen visuell ähnlich bestechenden und interessanten Einblick in den Subkontinent zu geben, wie es auch Danny Boyle vor knapp zehn Jahren mit „Slumdog Millionär“ gelang.
Dass es dabei kaum kitschig wird, ist Davis gutem Gespür für authentische Emotionen geschuldet, das sich z.B. beim nicht allzu künstlich aufgebauschten und kurz gehaltenen Wiedersehen am Ende zeigt. Einzig die surrealen Tagträume von der indischen Familie sind definitiv zu viel des Guten. Den Rest erledigt der großartige Cast. Dass Dev Patel für den Oscar als bester Nebendarsteller nominiert wurde, ist zwar insofern unverständlich, weil er der Hauptdarsteller ist, letztlich aber verdient. Patel zeigt eine glaubhafte wie fesselnde Darbietung und macht die Sehnsucht des Protagonisten nach seiner Heimat förmlich fassbar. Daneben gibt es eine großartige, ebenfalls für den Oscar nominierte Nicole Kidman zu sehen, die nicht viele Szenen benötigt um eine der emotional eindringlichsten Leistungen ihrer Karriere abzuliefern. Die Leistungen der zuletzt in „Carol“ sehr überzeugenden Rooney Mara, des sympathischen David Wenham stehen dem jedoch in nichts nach. Ein großes Lob geht auch an den niedlichen Kinderdarsteller Sunny Pawar.
Fazit:
„Lion“ ist ein rundum gelungenes Feel-Good-Movie nach wahrer Begebenheit. Stark bebildert, gefühlvoll erzählt und großartig gespielt beschäftigt sich der Film zudem sehr ernsthaft mit Themen wie Heimat, Familie und Herkunft und lässt nur ganz selten etwas Kitsch aufkommen.
84 %