„Das Gefühl, das Sie beschreiben, setzt einen biochemischen Prozess voraus. Er dient der Fortpflanzung und letztlich dem Arterhalt. Das Problem des Arterhalts stellt sich nur vor dem Hintergrund der Sterblichkeit. Ich aber kann nicht sterben. Ich kann mich nur verbessern.“
Der 19. Fall des Stuttgarter „Tatort“-Ermittlungsduos Thorsten Lannert und Sebastian Bootz (Richy Müller und Felix Klare) ist ein durchaus gewagter Gehversuch auf fremdem Terrain: dem der Science-Fiction. Der mit seinem Titel an den ein Eigenleben entwickelnden Supercomputer „HAL 9000“ aus Stanley Kubricks visionärem Film „2001: Odyssee im Weltraum“ angelehnte „Tatort“ wurde 2016 produziert und erstausgestrahlt, spielt jedoch in der nahen Zukunft des Jahres 2017. Die Regie führte der erfahrene „Tatort“-Autor und -Regisseur Niki Stein, der auch das Drehbuch verfasste.
Die Schauspielschülerin Elena Stemmle (Sophie Pfennigstorf, „Öl - Die Wahrheit über den Untergang der DDR“) wird tot am Neckarufer geborgen. Für den Online-Escortservice „Love Adventure“ verdingte sie sich als Edelprostituierte und stand außerdem dem Social-Analysis-Programm des Software-Unternehmens Bluesky zur Verfügung. Deren Entwickler David Bogmann (Ken Duken, „Die Nacht der Engel“) und Geschäftsführerin Mea Welsch (Karoline Eichhorn, „Der Felsen“) werten Big Data aus, um individuelle Profile zu entwickeln und diese gewinnbringend einzusetzen – beispielsweise um Verbrechen vorauszusagen. Die Ermittler stoßen auf ein Snuff-Video, das Stemmles Erstickungstod beim Sex zeigt – es wurde von Bogmanns IP-Adresse ins Darknet geladen. Damit ist er der Hauptverdächtige. Doch kann man diesem Video trauen? Bogmann beteuert seine Unschuld...
„Du kannst mich ja liken, wenn’s dir gefallen hat.“
„HAL“ greift das beliebte Motiv der sich verselbständigenden, ihren Schöpfern über den Kopf wachsenden und schließlich zur tödlichen Bedrohung werdenden künstlichen Intelligenz auf (für die der etwas in Vergessenheit geratene „Des Teufels Saat“ ein frühes Beispiel ist) und vermengt es mit aktuellen, ganz realen Entwicklungen um die Nutzbarkeit von Big Data sowie die Manipulationsmöglichkeiten von bewegten Bildern. Die deftigen (natürlich nicht realen) Snuff-Bilder haben Verstörungspotenzial und leiten über in eine drei Monate vorm Leichenfund einsetzende Rückblende, die Bluesky und Bogmann näher umreißt. Die Ermittlungsarbeit der Polizei gestaltet sich daraufhin nicht einfach, wobei ihr mitunter auch ihre eigene Naivität im Weg steht: KI-Avatare werden für echte Menschen gehalten und einem Chatroboter der Dienstausweis gezeigt. Interessanter ist da der zunehmend eskalierende Konflikt zwischen Bogmann und der Bluesky-Software, deren Selbsterhaltungsmaßnahmen er kaum etwas entgegenzusetzen hat, wie er erstaunt feststellen muss, und das sich schließlich gegen ihn richtet. Nebenschauplätze wie zwischenmenschliche Beziehungen wurden mal mehr, mal weniger passabel in die Handlung eingewoben, verblassen neben dem Kampf Mensch versus Technik jedoch.
Die Vorbilder sind etwas zu groß für diesen „Tatort“. Den sich durch die zahlreichen Anspielungen auf „2001“ (Eingangssequenz, das „Hänschen klein“-Lied, Namensähnlichkeiten etc.) aufdrängenden Vergleichen hält man nicht stand und auch das Kafkaeske, das die nach Werken Franz Kafkas benannten Filmkapitel suggerieren, bleibt man weitestgehend schuldig. Am spannendsten ist, wie der digitale Overkill unterschiedlicher Ausrichtung zusätzlich mit dagegen fast banal erscheinender analoger Sexualität vermischt wird, der sich auch kein noch so intelligenter Entwickler entziehen kann. Diverse visuelle Kabinettstückchen wie Point-of-View-Perspektiven, Kamerafahrten und technokratische Kulissen stehen im Kontrast zu bisweilen etwas steifen Dialogen, etwas vielen Klischees und letztlich einem allzu dicken Auftragen nach dem Motto „Übertreibung veranschaulicht“, zu Ungunsten von kriminologisch und gesellschaftlich Relevanterem wie z.B. der Einstellung der Ermittler und des LKAs zum fragwürdigen Verbrechenspräventionsanspruch Blueskys. Dennoch ist „HAL“ ein Fall, der sich angenehm technikkritisch gibt, ohne kulturpessimistisch zu sein, zum verantwortungsbewussten Umgang mit den immer zahlreicher werdenden Möglichkeiten der Datenauswertung mahnt und nicht zuletzt auch den kritischen Blick auf vermeintlich authentisches Material schärft.
Schade, dass er wirkt, als habe er einen Spagat zwischen klassischer „Tatort“-Unterhaltung und Science-Fiction-Sujet versuchen müssen, ohne eines von beiden wirklich konsequent zu bedienen. Da wäre mehr drin gewesen. Dennoch stimmt die Richtung und wird der Beweis angetreten, dass ein „Tatort“ mit Science-Fiction-Motiven durchaus funktionieren kann. Wohlwollende 6,5 von 10 Love Adventures dafür.