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„Wenn man den Amerikanern ihre eigene Coca-Cola verkaufen will, dann muss alles stimmen.“ – Frank Farian

Oliver Schwehm („Cinema Perverso - Die wunderbare und kaputte Welt des Bahnhofskinos“), eigentlich als Dokumentarfilmer zu cineastischen Themen bekannt, zeichnet auch für die 2016 veröffentlichte Musikdokumentation „Milli Vanilli – From Fame to Shame“ verantwortlich, die sich 60 Minuten lang jenem Popduo widmet, das innerhalb weniger Jahre Ende der 1980er eine Entwicklung vom gefeierten Hype zum skandalösen Betrugsfall nahm. Dafür versuchte er, eine intime Perspektive innerhalb des ehemaligen Milli-Vanilli-Zirkels einzunehmen und damit einen anderen Zugang zur Problematik zu erlangen.

„Musically, we are more talented than any Bob Dylan, Paul McCartney or Mick Jagger. I'm the new modern rock & roll. I'm the new Elvis.“ – Robert Pilatus

1987 brachte die US-Hip-Hop/Pop-Gruppe Numarx den Song „Girl You Know It’s True“ heraus, dem kein übermäßiger Erfolg beschieden war. Während sich die farbigen Tänzer Robert Pilatus und Fabrice Morvan für den deutschen Musikproduzenten Ralph Siegel noch als „Empire Bizarre“ ebenfalls recht erfolglos verdingten, entdeckte Siegels Kollege Frank Farian, der bereits mit seinem Projekt Boney M. riesige Erfolge gefeiert hatte, jene Numarx-Nummer, motzte sie klanglich überaus gekonnt auf und erschuf damit einen modernen Pop-Song mit Dance-, Hip-Hop- und Soul-Anteilen am Puls der Zeit. Er ließ ihn von einem Studiosänger fulminant einsingen und verpflichtete Pilatus und Morvan, als „Milli Vanilli“ den Song zu performen. Der Erfolg gab dieser Konstellation recht und so folgten Hit-Single um Hit-Single, derer gleich drei die Nummer eins der US-Charts erreichte – ein bis heute unerreichtes Novum für einen deutschen Act. Dass die beiden dabei nie selbst sangen galt es jedoch stets zu verbergen. Als dem Duo der Erfolg zu Kopfe stieg und es immer größenwahnsinniger wurde, wollte Frank Farian die Zusammenarbeit beenden, was auf Unverständnis bei den beiden stieß. Gegen Farians Willen begab man sich auf US-Tour, wo jedoch eines Tages das Playback hängenblieb und den Betrug aufdeckte. Farian räumte öffentlich ein, dass Rob und Fab nie selbst gesungen haben, seine Schützlinge mussten ihren Grammy zurückgeben, die Fans waren wütend und empört und das Projekt am Ende. Rob schmierte anschließend auf Drogen ab und wurde im April 1998 tot einem Hotelzimmer aufgefunden, gestorben an den Folgen eines Alkohol- und Drogen-Cocktails.

All dies erzählt Schwehm anhand von eigens eingeholten Originalaussagen der damals Involvierten nach, angereichert mit zahlreichem raren und unveröffentlichten, faszinierenden Archivmaterial. Schwehm geht noch weiter und blickt zurück in Pilatus‘ Kindheit. Diese verbrachte der 1965 in New York geborene Farbige in München bei seinen Adoptiveltern, schien eine Karriere als Fußballer einzuschlagen, musste den Alltagsrassismus seiner Mitmenschen über sich ergehen lassen und lernte schließlich den aus Paris stammenden Tänzer Morvan kennen, den es irgendwann in die bayrische Landeshauptstadt verschlug. Der introvertierte Fabrice und der extrovertierte Robert teilten die Leidenschaft zum Tanz, zogen zusammen und begannen, selbstdiszipliniert und hart an einer Pop-Karriere zu arbeiten. Neben Farian und Fabrice Morvan konnte Schwehm Roberts Stiefschwester Carmen, den tatsächlichen Milli-Vanilli-Sänger Brad Howell, Farian-Partnerin, Managerin und Namensgeberin Milli Segieth sowie weitere Figuren aus dem Popmusik-Zirkel für seinen Film gewinnen, die allesamt bereitwillig und mit mittlerweile vielen Jahren Abstand angenehm unaufgeregt und reflektiert aus dem Nähkästchen plaudern.

Zwischen raschem phänomenalem Aufstieg und steilem Fall verloren Rob und Fab den Sinn für die Realität, glaubten, selbst singen zu können und genau jene Pop-Götter zu sein, die viele Fans in ihnen sahen. Insbesondere Rob, der sich schnell an diesen Status gewöhnt hatte, fiel es anschließend schwer, wieder in die Realität zurückfinden, und kämpfte zeitlebens mit seinen inneren Dämonen, Alkohol und Drogen, was ihn schließlich viel zu jung das Leben kostete – wie die sprichwörtliche Kerze, deren Docht man an beiden Enden angezündet hatte. In seinem letzten, bisher unveröffentlichten Interview, das fünf Wochen vor seinem Tod entstanden war, erwischte man Pilatus offenbar in einem lichten Moment, denn überraschend realistisch und selbstkritisch schätzt er dort seine Situation ein. Mit Schuldzuweisungen hält sich Schwehm zurück, auch von Hohn und Spott keine Spur, wenngleich die zahlreichen Kuriositäten wie die Hair-Extensions und allgemeine Ästhetik des Duos oder ihre hanebüchenen Aussagen und Selbsteinschätzungen nicht ausgespart werden. Stattdessen reflektiert der Film die tragische Geschichte zweier ambitionierter junger Männer, die sich nur allzu bereitwillig von der Pop-Industrie durch die Manege ziehen ließen, aber ebenso wenig wie ihre Schöpfer ein adäquates Rezept für den Umgang mit dem schnellen Ruhm und Reichtum besaßen und alle Warnungen in den Wind schlugen. Als die Notbremse gezogen wurde, war es längst zu spät.

Damit zeigt Schwehm beeindruckend nüchtern die Maschinerie des Mainstream-Pops auf, ihre Wechselwirkung mit den Fans und den Medien und ihr trügerisches Antlitz. Vieles war damals im Übrigen gar nicht neu, weder das Neuinterpretieren stark geschriebener, aber schwach aufgenommener oder aufgeführter Songs noch das Arbeiten mit Frontmännern, die durch ihr Äußeres und ihre tänzerische Leistungen beeindrucken, aber nur so tun, als sängen sie selbst – wie es Frank Farian bereits exakt so mit Boney M. erfolgreich betrieben hatte. Umso verwunderlicher also, welche Skandalwirkung die Causa Milli Vanilli hatte. Den Unterschied wird ausgemacht haben, dass man bei Boney M. kaum zu verschleiern versucht hatte, dass Bobby Farrell lediglich die Lippen bewegte, und die aus dem Disco-Trend entstandene Musik wesentlich weniger mit Hintergrundgeschichten angereichert und auf bestimmte Personalien zugeschnitten worden war, während Milli Vanilli sich stets um den Anstrich authentischer Künstler mit persönlichen Geschichten bemüht hatten. Eigenartig mutet aber auch an, weshalb es bis zum GAU anscheinend nie jemand herausgehört hatte, dass bei vermeintlichen Live-Auftritten stets dasselbe Playback abgespielt wurde. Spätestens hier müssen sich die Fans die Frage gefallen lassen, ob sie sich nicht allzu willfährig und naiv einer Illusion hingaben und es eigentlich hätten besser wissen müssen. Besonders tragisch mutet es da an, dass es kurz nach Milli Vanilli im Zuge des Dancefloor-Musik-Hypes ganz normal wurde, (teilweise gar wechselnde) Tänzer(innen) auf die Bühne zu stellen, Musik und Gesang als rein artifizielle Erzeugnisse aber komplett im Studio zu produzieren bzw. zu generieren und kein Hahn danach krähte, die entsprechenden Acts Millionen umsetzten. Es scheint also fast, als hätten Milli Vanilli das Ende der ‘80er-Popkultur miteingeleitet, als bekleideten sie das Ende einer Ära, an deren Anschluss die Mainstream-Popmusik zusehends und -hörends verflachte. Blame it on the rain…

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