Review

Inmitten der in jeder Hinsicht zunehmend ausufernden Flut von Gialli in den frühen 70zigern schuf der relativ unbekannte Maurizio Lucidi im Jahre 1971 einen kuriosen, vermutlich selbst auf Kenner des Genres befremdlich wirkenden und ungemein faszinierenden Film: “La vittima designata“. Als Vorlage diente dem sonst kaum aufgefallenen Regisseur- wie an der Inhaltsangabe unschwer auszumachen ist- Alfred Hitchcocks überschätzter „Strangers on a train“ und vielleicht auch dessen Romanvorlage aus der Feder von Patricia Highsmith. Einige signifikante Änderungen und die große Aufmerksamkeit, die Lucidi dem tragischen, humanen Potenzial der Geschichte widmete (und die bei Hitchcock sträflich vernachlässigt wurde) sorgen allerdings für einen Eklat: Tatsächlich gewinnt „La vittima designata“ gegenüber Hitchcocks eher holprig inszenierter Fingerübung die 1951 einen qualitativen Einbruch darstellte zwischen des Meisters fruchtbarer Schaffensphase in der zweiten Hälfte der 40ziger und der Vollendung, die er ab Mitte der 50ziger erreichen sollte. Den Vergleich zwischen den beiden Filmen die sich- sieht man einmal von der Handlung ab- so rein gar nicht gleichen weil sie ihr Grundthema perspektivisch, inszenatorisch und dramaturgisch vollkommen unterschiedlich verarbeiten, will ich im folgenden nicht mehr weiter ziehen. Als leidenschaftlichem Hitchcock-Verehrer fällt es mir im Falle des „Todesengels“ vergleichsweise leicht, trotz offensichtlicher „Inspiration“ Souveränität und Einfallsreichtum zu attestieren. „Strangers on a train“ köchelte mit einigen dekorativen aber vernachlässigten Ansätzen ohne rechte Würze als passables Thriller-Süppchen vor sich hin. „La vittima designata“ schäumt als Psychodrama über vor innerer Spannung und artifiziell überhöhten Sequenzen ohne dabei großen Wert auf das kriminalistische der Handlung zu legen. Vielmehr studiert er in seinem optionsreichen Rahmen zwei Menschen die sich in ihren teils bewussten, teil unbewussten selbstdestruktiven Sehnsüchten und ihrer gegensätzlich begründeten Antriebslosigkeit gegenseitig ergänzen in einem Absturz in Gefühlskälte und Ausweglosigkeit, in eine emotionale und ethische Sackgasse.

Die Rezeption von Lucidis Film gerät dabei für den Zuschauer trotz der anfangs schlichten und ungebrochenen Handlung zu einem spannenden analytischen Spiel- denn die von Kennern des Film stets hoch gelobte Schlusspointe wirft- ganz im Gegensatz zu so manch anderen kalkulierten „Überraschungen“ die nicht selten puren Selbstzweck darstellen- ein vollkommen neues Licht auf die vorangestellten Ereignisse- und vielleicht auch das eigene, insgeheim schon zurecht gelegte Fazit, das man daraus gezogen hatte, um. Der oberflächliche Thrill verliert schon bald an Relevanz und macht einer ebenso neugierigen wie distanzierten Beobachtung der Figuren und ihrer Abhängigkeit voneinander Platz.

Stefano Argenti (Tomas Milian) ist ein Mann für halbe Sachen. Trotz einst ansehnlicher wirtschaftlicher und persönlicher Ambitionen ist er an einem Punkt angelangt, an dem ihm durch seine Engstirnigkeit und Unentschlossenheit die Verwirklichung seiner von ihm selbst stets unzulänglich verfolgten Sehnsüchte nicht mehr möglich ist. Die Scheidung von seiner ungeliebten, herrschsüchtigen Frau Luisa (Marisa Bartoli) droht ihn darüber hinaus zu enteignen denn die gemeinsamen Geschäftsanteile im Wert von 250 Millionen Lire sind auf ihren Namen ausgeschrieben. Für Stefano ein Grund zur Panik. Doch seine halbherzigen Versuche, das Geld auf unlauterem Wege in seinen Besitz zu bringen, scheitern sämtlich. Auf einer Reise nach Venedig mit seiner Geliebten Fabienne (Katia Christine) lernt er den jungen Grafen Matteo Tiepolo (Pierre Clementi) kennen der ihm bald mit ebenso schüchternen wie auch aufdringlichen Avancen nachstellt- und schnell seine Absichten offenkundig werden lässt: Er schlägt Stefano einen perfiden Tauschhandel vor: Er will Luisa töten und erwartet von Stefano im Gegenzug die Beseitigung seines despotischen Bruders. Während Stefano diesen im Grunde zumindest partiell willkommenen Vorschlag als makabren Scherz abwinkt führt Matteo die angekündigte Tat durch- und beharrt darauf dass auch Stefano seinen Beitrag leisten möge. Als Stefano sich weigert droht er damit, Indizien die seinen „Freund“ entlasten würden, zurückzuhalten. Stefano befindet sich in einer prekären Situation die ihn zum Handeln zwingt…

Obgleich Maurizio Lucidi die oberflächlichen Spannungsmomente der Geschichte effizient auskostet ist die hohe Qualität und die Beständigkeit seines Films eindeutig in seinen inszenatorischen Eigenheiten und dem im Rahmen einer derartigen Produktion unkonventionellen dramaturgischen Schwerpunkt begründet. Der Ausgangspunkt der eigentlichen Handlung ist nicht der menschliche Konflikt, in den der Graf Stefano bringt sondern das erste Treffen der Beiden. Hier dringt ein Fremdkörper, ein Katalysator in die Welt des passiven, unentschlossenen Stefano ein der einerseits eine offenkundig homoerotische Zuneigung für sein „Opfer“ empfindet, zum anderen in dessen labiler Seele den perfekten Nährboden für die Durchführung seines mit morbider Erregung arrangierten Plans gefunden hat.

„Wenn du in den Spiegel siehst wirst du in Zukunft auch mein Gesicht sehen denn ich bin dein wahrer Bruder! Ich habe getan wovon du nur geträumt hast, ich bin das Werkzeug das deinen Willen ausführt!“


Die ambivalente Darstellung und die Inszenierung des Grafen erklärt den deutschen Titel: Pierre Clementi interpretiert ihn in einer herausragenden Darbietung als eine Paarung aus tuntigem Hippie und- ausgestattet mit langen, welligen Haaren und einem langen Umhang- Adeligen des 18. Jahrhunderts (die Parallele zum Sonnen- und Mörderkönig Ludwig XIV. kommt einem in den Sinn). Die Art und Weise wie sich seine Figur mit dem von Tomas Milian gewohnt brillant wenn auch vergleichsweise zurückhaltend gespielten Stefano ergänzt gehört zu den interessantesten Figurenkonstellationen des italienischen Genre-Kinos. Nach außen wirkt Stefano pragmatisch und selbstbewusst. Innerlich ist er aber von Unsicherheit und Angst zerfressen, feige und nie bereit, die Initiative zu ergreifen. Ganz im Kontrast dazu steht Matteo: Er besitzt die kühle Berechnung und die Radikalität die Stefano vermissen lässt, gibt sich aber schüchtern und passiv- auch wenn er letztendlich die Zügel in der Hand hält. Schließt man die offensive, unmissverständlich in zahlreichen Sequenzen wiederkehrende Homoerotik zwischen den beiden Figuren ein, so gewinnt dieser Gedanke noch an Faszination: Matteo, dem man vor allem aufgrund seines oberflächlich zaghaften, effeminierten Auftretens intuitiv sexuelle Unterwürfigkeit zuschreiben würde kontrolliert den ausgesprochen maskulinen Rosenkavalier Stefano und bindet ihn an sich.

Dieses primär aber nicht nur durch die unfreiwillige Hilfe mit der er Stefano „unterstützt“. Dieser löst trotz der unheilvollen Vorzeichen und dem vermeintlichen „Spleen“ Matteos nicht das seltsame Band, dass die Beiden seit Stefanos Aufenthalt in Venedig verbindet. Denn er spürt- eher unbewusst denn berechnend- das er sich Matteos radikale, kompromisslose Haltung und moralische Furchtlosigkeit zunutze machen kann. Die Reaktion auf Matteos Tat ist nicht nur durch die plötzlich wertlosen persönlichen Vorzüge lediglich widerwillig. Sie ist ebenso halbherzig wie all seine übrigen Handlungen. Und als er schließlich beginnt zu agieren empfindet der Zuschauer dies weniger als Ausbruch aus dieser Lethargie sondern eher als unwillige, verzweifelte Aktivität ohne echte Motivation. Denn Lucidis Protagonisten sind sämtlich desolat: Der Graf hat das sinnliche und emotionale Angebot des Lebens für sich selbst bereits erschöpft und ergeht sich in morbiden Todesfantasien, Fabienne suggeriert sich selbst eine Zuneigung zu Stefano die doch jenseits der seelischen Betäubung keine weiteren Motivationen hat.

Dennoch begreift sich „Der Todesengel“ nicht als psychologisch ausgefeilte Charakterstudie. Lucidi greift wiederholt zum Stilmittel der dramatischen Überzeichnung was insbesondere in den oft geradezu theatralischen, unvermittelten Auftritten des Grafen augenfällig wird. Insbesondere der Spaziergang durch das nebelverhangene Venedig, auf dem Matteo Stefano seinen Vorschlag unterbreitet, und die letzten zehn Minuten sind repräsentativ für die hochartifizielle Grundstimmung des Films, sein extrem stilisiertes Design (Somit hat auch der italienische Originaltitel seine programmatische Richtigkeit) und seine ausgefallene Farbdramaturgie, die stets Matteo- schon in seinem ersten Auftritt- als übermächtigen Herrscher über Stefano ausweist. Während dieses besagten Spaziergangs durchschreiten die Beiden die grauen Gassen in denen Stefano mit seiner unauffälligen Kleidung beinahe in der Kulisse untergeht. Einzig der blutrote Schal des Grafen fällt hier stechend ins Auge. Später, als Stefano Matteo in dessen Palazzo aufsucht wird diese dezente Suggestion um ein vielfaches potenziert und alleine durch die überladen-aggressive farbliche Gestaltung der Interieurs noch bedrückender die ungeheure Macht Matteos über den in diesen Räumlichkeiten verlorenen Stefano deutlich. Gerade die Außenaufnahmen in den düsteren Gassen Venedigs und die pointierte Inszenierung der Architektur wecken auch nicht selten wohlige Erinnerungen an Nicholas Roegs zwei Jahre später entstandenes Meisterwerk „Wenn die Gondeln Trauer tragen“- dass er Lucidis Film (International als „Slam out“ bekannt) gesehen hat dürfte als sehr wahrscheinlich angenommen werden. Übrigens sollte auch Aldo Lado, der hier als Co-Autor fungierte, ein Jahr später mit seiner zweiten Regiearbeit, dem Giallo „Chi l’ha vista morire“ hierher zurückkehren.

Jene überzeichnete Dramatik erhält intensive Rückendeckung durch die von Violinen und Cembali dominierten, melancholischen Stücke der italienischen Progressiv-Rock-Gruppe „New Trolls“ und die ergänzende Illustrationsmusik des argentinischen Komponisten Luis Enriquez Bacalov („Django“, „Milano Kaliber 9“). Es ist äußerst bedauerlich das diese Formation- anders als die inzwischen legendären „Goblin“- keine weiteren Soundtracks kreieren sollte. Gerade anhand der barocken Klänge (einige der Violinen-Arrangements sind offensichtlich an Vivaldi- einen venezianischen Komponisten!- angelehnt) wird eine Brücke geschlagen zwischen dem Zeitgeist des Jahres 1971 und dem des frühen 18. Jahrhunderts. Diese Brücke führt freilich zu Matteo, den man seinem Titel „Graf“ entsprechend in Szene gesetzt hat, optisch ebenso wie musikalisch.

Überhaupt ist Melancholie ein Wort mit dem man „La vittima designata“ treffend resümieren könnte. Der elektrisierende Suspense wird sicherlich auch erfreuen und unterhalten wenn man sich für die Entwicklung und die Darstellung der Charaktere, die schwelgerischen Scope-Bilder von Aldo Tonti und den minutiösen Schnitt- der ebenfalls besonders in den Dialogen zwischen Matteo und Stefano sowie im formal genialischen Finale zum Tragen kommt- nicht weiter begeistern kann. Doch „Der Todesengel“ beeindruckt als atmosphärisch dichtes, exotisches Gesamtkunstwerk um soviel mehr und vor allem nachhaltiger. Denn es handelt sich hier nicht um einen Giallo von der Stange- wie sie damals in heute unüberschaubaren Mengen produziert wurden- sondern um einen im italienischen Genre-Kino wahrscheinlich einzigartigen, obskuren Werk das aus einem direkten Wettstreit mit den zeitgleich gefertigten Thrillern von Sergio Martino, Umberto Lenzi und Dario Argento sicherlich triumphierend hervorgehen wird. Aus welchen Gründen auch immer- groß ist die Gemeinde seiner Verehrer bislang anscheinend nicht. Vielleicht lag es an der dramatischen Überzeichnung, vielleicht aber auch an dem Verzicht auf die handelsüblichen reißerischen Elemente- Maurizio Lucidis glänzendes Psychodrama ist seiner geringen Popularität in der Tat weit überlegen. Es bleibt zu hoffen dass sich dieser ungerechte, bedauerliche Zustand durch die jüngst veröffentlichte, hochwertige deutsche DVD des Labels NEW ändern wird.

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