„Nächster Halt: Abgrund!"
Das Feuilleton ist ja immer ganz schnell mit neuen Kategorisierungen bei der Hand. Der Begriff „Domestic Noir" ist aber gar nicht mal so schlecht gewählt. In den letzten Jahren drängten vermehrt Thriller auf den Markt, die sich hauptsächlich in häuslichen Bereichen sowie am Arbeitsplatz abspielten und sich im weitesten Sinne mit weiblichen Erfahrungen im verminten Gebiet zwischenmenschlicher Beziehungen beschäftigten. Im Kern geht es darum, dass das heimische, familiäre Umfeld für ihre Bewohner allerlei Gefahren, Fallstricke und Abgründe bereit hält. Bei diesen vornehmlich aus einer feministischen Perspektive erzählten Spannungsromanen geht es häufig um Lügen, Geheimnisse, Missbrauch, unerfüllte Träume mit all ihren psychischen Begleit- und Folgeerscheinungen. Neben Julia Crouch und Elizabeth Haynes wurde v.a. Gyllian Flynn das „Gesicht" der Gattung, zumal ihr Bestseller „Gone Girl" von Psychothriller-Spezialist David Fincher („Sieben", „Zodiac", „Verblendung") höchst erfolgreich für die große Leinwand adaptiert worden war.
Überhaupt eignen sich diese häufig verschachtelten und mit allerlei überraschenden Wendungen aufwartenden Spannungsplots bestens für eine filmische Aufbereitung. Altmeister Alfred Hitchcock hatte dafür schon früh den Weg geebnet und das gern psychologische Spiel um Lug, Trug und Perfidie perfektioniert. So ist es nur logisch, dass Hollywood sich auch den letztjährigen Weltbestseller „Girl on the Train" - zumal vor dem aktuellen Popularitätshöhenflug des „Domestic Noir" - keinesfalls entgehen lassen würde. Die Britin Paula Hawkins entwarf in ihrem Thriller-Debut eine clever konstruierte Dreiecksgeschichte um Enttäuschung, Verrat und gestörte Wahrnehmungen.
Im Zentrum steht die New York-Pendlerin Rachel Watson (Emily Blunt), die auf ihrer Zugfahrt nach Manhattan tagtäglich ein scheinbar perfektes Paar - sie nennt sie Jess und Jason (Haley Bennett und Luke Evans) - beobachtet, das offenbar all ihre geplatzten und zerstörten Träume verwirklicht hat. Obwohl sie die beiden nie persönlich getroffen hat, entwickelt sie eine enge Bindung. Umso geschockter ist sie, als Jess plötzlich verschwindet, zumal sie von Flashbacks geplagt wird, in denen sie ihr in einem dunklen Tunnel gegenüber steht ...
„Girl on the Train" entwickelt sein enormes Spannungspotential aus der Tatsache, dass Rachel nicht mehr weiß als der Zuschauer. Dazu kommt eine verschachtelte Erzählweise, in der durch zahlreiche Rückblenden Stück für Stück das Beziehungsgeflecht der drei Hauptfiguren offen gelegt wird. Denn neben Rachel und Jess (die eigentlich Megan Hipwell heißt) gibt es noch eine dritte Protagonistin. Anna Watson (Rebecca Ferguson) hat nicht nur Rachels Ex-Mann Tom (Justin Theroux) geheiratet, sondern ist mitsamt ihrem gemeinsamen Baby in exakt das Haus gezogen, welches Rachel seinerzeit für sich und Tom eingerichtet hatte. Auch dort kommt Anna jeden Tag mit dem Zug vorbei, denn es liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem von Megan und Scott Hipwell.
Rachel bekommt damit nicht nur in einer schmerzvollen Dauerschleife die heile Beziehungswelt der Hipwells serviert, sondern eben auch das Trauma ihrer gescheiterten Ehe und ihres unerfüllten Kinderwunsches. Längst ist sie unter anderem darüber zur Alkoholikerin geworden, die immer wieder mit Ausfällen und Wahrnehmungsstörungen zu kämpfen hat. Im vorliegenden Fall geht das soweit, dass sie am Ende nicht mehr sicher sein kann, ob sie nicht gar zur Mörderin geworden ist.
Diese Unsicherheit und Unberechenbarkeit Rachels sowie eine Reihe überraschender Wendungen, die stückweise die Wahrheit hinter der Fassade jeder der drei Frauen enthüllen, machen den Film zu einem hoch spannenden Kriminalpuzzle in die Abgründe menschlicher Empfindungen. Alles scheint möglich, da nichts so ist, wie es auf den ersten Blick aussieht. Mit dieser simplen, aber höchst effektiven Thriller-Prämisse entfaltet der Film eine finstere Sogwirkung, die zumindest bis zum Finale wie ein gut geölter Motor schnurrt.
Das schlüssige Ende ist dann etwas zu früh erahnbar und auch etwas zu konventionell geraten. Ein konsequenterer Weg ins düstere Ungewisse wäre vielleicht interessanter und stimmiger gewesen. David Fincher ist dies im vergleichbaren „Gone Girl" besser gelungen, aber da war auch die Vorlage noch ein Stück weit raffinierter und vor allem bösartiger ausgefallen. Optisch spielt Fincher ebenfalls in einer andere Liga, zumal Regisseur Tate Taylor hier zwar edle Bilder entwirft, aber nie eine eigene Handschrift erkennen lässt bzw. eine Idee entwickelt, auch visuell an der Spannungsschraube zu drehen. Ähnliches gilt für Filmmusik-Veteran Danny Elfman (u.a. Tim Burtons Hofkomponist), der einen soliden, klassischen Thriller-Score abliefert, der atmosphärisch nicht mit Trent Reznors Arbeiten für Fincher konkurrieren kann.
Aber Taylor hat neben der ausgefeilten Vorlage noch ein weiteres As im Ärmel und das ist sein Cast. Allen voran Emily Blunt. Dass sie einen Film alleine tragen kann und das in einer keineswegs leicht zugänglichen Rolle, weiß man spätestens seit dem knallharten Kartell-Thriller „Sicario". Allein mit ihrem Blick und ein paar wenigen Gestik-Kniffen vermittelt sie schwierige Emotionen wie Abgeschlagenheit, Verzweiflung, Frustration, oder Angst. Für das Funktionieren des Rachel-Charakters eine essentielle Voraussetzung. Der Schwedin Rebecca Ferguson (Anna) und Haley Bennett (Megan) hätte man indes gerne länger und ausführlicher zugesehen, denn sie schaffen es ähnlich überzeugend, eine Aura des Undurchsichtigen und Geheimnisvollen um sich aufzubauen. Es ist dann auch nicht zuletzt diese teilweise Vernachlässigung der beiden anderen Frauenfiguren, die dem ganz großen Genre-Wurf im Weg steht.
In der noch jungen Sub-Kategorie des „Domestic Noir" gehört „Girl on the Train" aber dennoch zu den oberen Zehntausend. An Platzhirsch David Fincher nicht heran zu reichen ist keine Schande, zumal die Spannungsdramaturgie auch gehobenen Ansprüchen genügt. Die klar weibliche Perspektive sorgt für wohltuende Abwechslung auf dem Spielfeld des Psycho-Thrillers und hätte sicher auch Alfred Hitchcock gefallen. Das Fenster zum Hof ist hier die Scheibe zum Vorortidyll, oder besser zur Vorort-Hölle?