Ein Mann lehnt an einer steinernen Balustrade, während die unbewegte Kamera an ihm vorbei eine Person einfängt, die sich auf ihn zu bewegt. Langsam schreitet diese Person voran und drückt ihm, ohne ihn anzusehen, einen Koffer in die Hand. Der Mann legt den Koffer auf die Balustrade, öffnet ihn und sucht unter dem Inhalt nach einem versteckten Gegenstand, bis er ein Buch in seiner Hand hält - "Le Silence de la Mer".
Betrachtet man Jean-Pierre Melvilles Oevre im Nachhinein, hätte er keinen Titel für seinen ersten Langfilm finden können, der geeigneter seinen Stil bezeichnete, denn wenn etwas signifikant - besonders für seine späten Filme - blieb, dann die darin vorherrschende Stille. Schon die Inszenierung der ersten Szene verdeutlicht, wie schnell und konsequent Melville seinen eigenen Stil gefunden hatte.
Die ruhige Kamera, die in die Tiefe schaut und das zukünftige Geschehen aus der räumlichen Perspektive entwickelt, und die Nahaufnahmen der Gesichter, die er so lange betrachtet, dass selbst kleinste Regungen hohe Beredsamkeit ausdrücken, waren Elemente, denen er stets treu blieb. Melville selbst nannte diesen Stil "antikinematografisch", da er die üblichen Kinoerzählstrukturen umkehrte, indem er die Sprache durch Töne und Bilder ersetzte und Bewegung und Handlung praktisch verbannte (Melville in seinem Gespräch mit Rui Nogueira).
Erstaunlicherweise weist er mit dieser Gestaltung schon weit voraus auf seine Kriminalfilme, mit denen er in den 60er Jahren bekannt wurde und für dessen Genre er bis heute stilbildend blieb. "Das Schweigen des Meeres" steht nicht nur in direktem Zusammenhang mit "Armee der Schatten" (1969), der sich auch den Kriegsjahren und dem Widerstand widmete, sondern führt konsequent zu "Der eiskalte Engel" und "Vier im roten Kreis".
Damit befand er sich nicht nur gestalterisch gegen den Trend seiner Zeit, sondern auch die Thematik, der er sich hier widmete, war 1948 gewagt. Die erste Szene, die sich – gemeinsam mit dem Schließen des Buchs in der letzten Szene - als Klammer um die eigentliche Erzählung legt, sollte verdeutlichen, dass es sich bei "Le Silence de la Mer" um ein verbotenes Buch handelt, das während der deutschen Besatzungszeit erschien. Die von Vercor, der selbst Mitglied der französischen Resistance war, geschriebene Erzählung war das erste Buch, dass der Verlag „Éditions de Minuit“ im Untergrund veröffentlichte, und es überrascht darin die komplexe Sichtweise auf die Deutschen und das Gleichgewicht zwischen dem Kampf gegen die Besatzungsmacht und der Hoffnung auf Versöhnung.
Vercor’s Sichtweise ist desto bemerkenswerter, weil sie während des Krieges entstand, während in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Versöhnungsgedanken schnell Missbilligung nach sich zogen. Nicht erstaunlich, dass Melville keine Unterstützung für sein Projekt erhielt und sich selbst um die Finanzierung kümmern musste. Er erhielt auch keine Zustimmung des Autors, überließ diesem aber die Entscheidung, ob der Film nach seiner Fertigstellung veröffentlicht werden sollte. Vercor und 23 weitere Vertreter der Resistance stimmten nach einer privaten Kinovorführung schliesslich dafür.
Die Handlung selbst ist äußerst sparsam und verzichtet fast gänzlich auf Dialoge. Eine Stimme aus dem Off bereitet das Geschehen vor und kommentiert es aus persönlicher Sicht, denn sie gehört Jean-Marie Robain, der den Hausbesitzer spielt. Er lebt gemeinsam mit seiner Nichte (Nicole Stéphane) in einem kleinen französischen Ort, von dem aus die deutsche Besatzungsmacht eine Verwaltung betreibt, in der einige deutsche Offiziere organisatorischen Aufgaben nachgehen. Melville verzichtet im gesamten Film auf militärische oder dramatisch zugespitzte Aktionen. Deutlich wird nur, wie selbstverständlich deutsche Soldaten das Landhaus okkupieren und ohne Hast die Ankunft eines Offiziers vorbereiten, der in einem der Zimmer im Obergeschoss wohnen wird.
Melville beschränkt sich nahezu ausschließlich auf das Wohnzimmer, in dem Onkel und Nichte in einer täglich gleich bleibenden Haltung – er raucht seine Pfeife, sie häkelt – um den Kamin sitzen. Als der Offizier Werner Von Ebrennac zum ersten Mal in seiner Uniform diesen Raum betritt, wirkt er so Furcht einflössend wie erwartet. Melville filmt ihn von unten im Gegenlicht und erzeugt damit den gewünschten teuflischen Effekt, unterstützt noch durch Howard Vernons markante Züge. Das Vernon, der fast immer als Bösewicht eingesetzt wurde (darunter „Der schreckliche Dr.Orloff“), hier die Hauptrolle spielte, verdeutlicht Melvilles intelligenten Ansatz, denn dessen Physiognomie scheint zuerst die Meinung über die Deutschen zu bestätigen, während Von Ebrennac sich in der Folge als hervorragend französisch sprechender, kultureller Geist entpuppt.
Zuerst ist er noch ein wenig konsterniert, dass seine unfreiwilligen Gastgeber nicht mit ihm sprechen, aber zunehmend macht er sich davon unabhängig, und hält Monologe über Musik, die deutsche und französische Kultur und die Chancen, die aus seiner Sicht in dem kriegerischen Konflikt stecken. Optisch ist das daran zu erkennen, dass er nach einer Eingewöhnungszeit seine Gastgeber nicht mehr mit seiner Uniform konfrontiert, so wie er niemals laut wird und das Schweigen der Beiden respektiert. Aus Robains Off-Kommentaren wird deutlich, dass ihm und seiner Nichte der Besucher zunehmend sympathischer wird. Obwohl ihnen gegenüber dem Deutschen kein Laut über die Lippen kommt, spürt die Kamera die winzigen Regungen in ihren Gesichtern auf. Besonders der jungen Nichte merkt man ihre zunehmenden Gefühle an.
Durch Von Ebrennacs Verhalten verschiebt sich die Wahrnehmung in der Hinsicht, dass die beiden Franzosen sturer wirken als der Vertreter der deutschen Besatzungsmacht. Um ein Ungleichgewicht zu vermeiden, streut Melville regelmäßig Bilder der Besatzungszeit ein, die das Unrecht der Deutschen kenntlich machen. Die Beschreibung von Ebrennacs Verlobter, die einer Mücke, weil sie sich von ihr gestört fühlt, mit sadistischem Lächeln die Beine einzeln rausreißt, wirkt im Zusammenhang ungewohnt plakativ und ist sicherlich der Zeit geschuldet. Denn die ambivalente Haltung zum Verhalten der französischen Bewohner war auch von Vercors gewollt, der einerseits die Konsequenz in der Missachtung des Feindes bewunderte, andererseits die darin verborgene Passivität als nicht hilfreich für die Resistance ansah.
Die Handlung verändert sich, als Melville den Blick über den kleinen Kosmos des Landhauses hinaus wirft. Die Szenen in Paris, die das ungeheuerliche Denken der deutschen Offiziere über die Judenvernichtung und die Zerstörung der französischen Kultur in ihrem erschreckenden Pragmatismus zeigen, sind beeindruckend. Von Ebrennac hatte sich die Reise nach Paris gewünscht, um dort die französische Kultur noch intensiver zu erleben. Stattdessen muss er erfahren, dass seine Offizierskollegen völlig anders über die Zukunft denken als er. Demoralisiert kehrt er zurück und seine Gastgeber, die ihn eine Zeit lang nicht zu Sicht bekommen, spüren als Erste, dass sich in ihm etwas verändert hat.
Immer mehr entsteht der Eindruck, dass Von Ebrennac einer von ihnen wird und man muss Vercors Mut und Intelligenz bewundern, den zerstörerischen Plan aus der Sicht eines Deutschen zu schildern, der diesen in seinem vollen Umfang erkennt und seine Konsequenzen daraus zieht. Dadurch erhält der Film einerseits eine auch aus heutiger Sicht große Objektivität, ohne die Taten der Deutschen im Geringsten zu beschönigen, und ermöglicht andererseits den Gedanken, dass Versöhnung und Gemeinsamkeiten möglich sind.
Unterstützt wird die Handlung durch Melvilles ruhige und in ihren hell-dunkel Kontrasten klare Bildsprache, die die Einsamkeit und das fast unmenschliche Zusammenreißen in der Interaktion der drei Protagonisten begreifbar werden lassen. Die Unmöglichkeit des Zusammenseins und das gleichzeitige Gefühl von Ähnlichkeit im Denken und Empfinden tritt sich Bahn in einem letzten „Adieu“, das die junge Nichte dem scheidenden Offizier, der sich freiwillig an die Ostfront meldet, zuruft – selten hatte ein einziges Wort eine stärkere Wirkung (9,5/10).