In jedem Mann steckt ein Wolf...
Die junge, tief in der Pubertät steckende Rosaleen (Sarah Patterson, „Schneewittchen", „Cinderella") flüchtet sich vor ihrer bösartigen Schwester und ihren desinteressierten Eltern (David Warner und Tusse Silberg) in eine düster-märchenhafte Traumwelt. Zunächst wird dort die verhasste Schwester von einem Wolfsrudel durch den finsteren, nebelverhangenen Wald gehetzt und getötet. Um die trauernde Mutter zu entlasten verbringt Rosaleen nun viel Zeit bei ihrer gutherzigen Großmutter (Angela Landsbury, u.a. bekannt aus der Serie „Mord ist ihr Hobby"), die ihrer Enkelin einige schaurige aber parabelhafte Geschichten über Werwölfe erzählt.
Als sich im Winter die hungrigen Wölfe um Rosaleens Heimatdorf versammeln, stellen sich die von der Mutter als Altweibergewäsch abgewerteten Geschichten als äußerst real heraus: ein bei einer Hetzjagd erlegter Wolf verwandelt sich in einen Menschen, die Menschen sind von Angst erfüllten. Allen Warnungen zum Trotz, nie einem Mann mit zusammengewachsenen Augenbrauen vertrauen, lässt sich Rosaleen mit eben einem solchen auf eine Wette ein. Als sich der Fremdling, der sich durch sein kultiviertes Verhalten von den grobschlächtigen Kerlen abhebt, als Werwolf entpuppt, wird das junge Mädchen vor eine lebenswichtige Entscheidung gestellt...
Neil Jordans („Interview mit einem Vampir") Film „Die Zeit der Wölfe" lässt den Zuschauer völlig allein mit seiner Phantasie und Interpretationsgabe: man könnte ihn als Metapher für den Prozess des Erwachsenwerdens deuten, als Verbildlichung des in der heranwachsenden Rosaleen erwachenden sexuellen Bewusstseins (der Wolf als Sinnbild des begehrenswerten Mannes), dem Fabulieren sind hier keinerlei Grenzen gesetzt.
+ + + Achtung: eventuell Spoiler + + +
Die Story an sich basiert frei auf dem Grimmschen Märchen „Rotkäppchen", Rosaleen bekommt auch hier von ihrer Großmutter, der „Beschützerin" einen samtenen roten Umhang genäht ( der Umhang als Symbol der Unschuld oder als Schutzmantel gegen negative Einflüsse), den ihr der schöne Unbekannte, der sich als Werwolf herausgestellt und die Großmutter ermordet hat, auszieht (Verlust der Unschuld/des Schutzes). Als Rosaleen, nun selber in Wolfsgestalt, mit diesem Mann/Wolf vor den herannahenden Dorfbewohnern flieht und in der Dunkelheit des Waldes verschwindet, ist ihre Kindheit vorbei und ihre „Unschuld" verloren. Die Episode mit der jungen Werwölfin, die von den Menschen angeschossen wird und wieder in der „Unterwelt" verschwindet, könnte man mit dem Freudianischen Konflikt des „Es" mit dem „Über-Ich" vergleichen: das wölfische, wilde „Es" hat keinen Bestand und wird vom „Über-Ich" verdrängt, das „Unbewusste" zieht sich zurück und das „Bewusste" dominiert wieder. Oder so ähnlich...
+ + + Spoiler Ende + + +
Überzeugen kann „Die Zeit der Wölfe" vor allem durch seine äußerst stilvolle Inszenierung: was hier an Atmosphäre aufgebaut wird, ist schon beachtlich, die Set-Designer haben ganze Arbeit geleistet und eine bedrohliche, mysteriöse und durchweg überzeugende Fantasykulisse erschaffen, die jedoch niemals kitschig wirkt und der Kameramann hat diese Märchenwelt in wunderbaren, pompösen Bildern eingefangen. Dies wird durch den grandiosen, brütenden Score noch unterstützt. Ein weiterer Bonus sind die gelungenen Spezialeffekte, die teilweise recht blutig ausgefallen sind (so reißt sich z.B. ein Werwolf die Haut vom Gesicht, bevor er sich verwandelt), aber nie selbstzweckhaft wirken.
Auch die Schauspieler sind durchweg überzeugend, wobei mir die herrliche Angela Landsbury als weise Oma besonders gut gefallen hat.
Anzumerken wäre noch, dass Sarah Patterson, die „Rosaleen", nach ihrer Debütrolle in „Die Zeit der Wölfe" noch in zwei weiteren Märchenverfilmungen mitspielen durfte, danach allerdings von der Bildfläche verschwand. Schade eigentlich, denn auch sie macht ihre Arbeit gut und verleiht ihrer Rolle die nötige Präsenz!
Fazit: „Die Zeit der Wölfe" ist ein mysteriöser, düsterer und stilistisch perfekter Bilderreigen, der dem Zuschauer einiges an Denkarbeit abverlangt - ein Umstand, der wohl nicht jedem gefallen dürfte. Der geneigte Zuschauer bekommt allerdings einen Trip durch die Märchen seiner Kindheit serviert, den er so schnell nicht mehr vergessen wird!