Michèle, die Chefin einer Videospiel-Firma in mittleren Jahren, wird in ihrer Wohnung von einem maskierten Unbekannten überfallen und vergewaltigt. Anstatt zur Polizei zu gehen beseitigt sie alle Spuren der Tat und erscheint auch am nächsten Tag ganz normal auf ihrer Arbeit. Es scheint so, als bliebe zwischen den stressigen Alltäglichkeiten wie den Zankereien mit ihrer mannstollen Mutter und der Affäre mit dem Ehemann ihrer besten Freundin keine Zeit, um den Vorfall angemessen zu verarbeiten. Erst als sich der Vergewaltiger weiterhin mit obszönen Nachrichten in ihr Leben drängt, spürt Michèle dem Täter, der sich in ihrem näheren Umfeld aufhalten muss, auf eigene Faust nach... Nach dem zwar perfekt gemachten, aber etwas seelenlosen 2000er-Trickspektakel "Hollow Man - Unsichtbare Gefahr" hat Paul Verhoeven allem Anschein nach Hollywood den Rücken gekehrt und in der alten Heimat zu der sehr europäischen Erzählweise seiner frühen Arbeiten zurückgefunden und werkelt seitdem an persönlicheren Filmen, die doch wieder etwas substanzieller daherkommen. Mit "Elle" erreicht Verhoeven zudem glatt fast schon wieder die psychologische Raffinesse seines eigenen "Der Vierte Mann", auch wenn das Ganze nun wirklich nicht in reinen Genre-Bahnen verläuft und sich nur schwer irgendwie kategorisieren lässt, denn der vermeintlich schnell ausgemachte Rape-and-Revenge-Ansatz zerfasert schnell in viele, viele Neben-Handlungen und mündet hier schon eher in einem schwarzhumorigen Sittengemälde ohne jeden Funken von Moral, Anstand und political correctness... und entpuppt sich dann mehr im Vorbeigehen quasi doch als superiorer Thriller, der fernab der üblichen Hollywood'schen Mainstream-Denke bis zum Schluss fesselt. Dem Streifen merkt man den Spaß, den Verhoeven an der Inszenierung der kruden Geschehnisse und den fast schon im Minuten-Takt gesetzten Irritationen gehabt haben muss, durchaus an, es ist fast so, als würde er beim Ansehen grinsend neben einem sitzen und permanent mit 'nem spitzen Stock in die Seite piken. Jedenfalls ist es schön zu sehen, dass es auch noch Filmemacher gibt, die auch im hohen Alter nicht ihren Biss verlieren oder sonst wie total abwracken, Negativ-Beispiele dafür gibt's ja zur Genüge (Argento, De Palma, Cronenberg etc.). Insgesamt hübsch quergebürstet, kantig und in good bad taste, mit nur wenigen kleinen Schönheitsfehlern (die Ausschnitte aus dem vermeintlichen High-End-Videospiel, an dem in Michèles Firma gewerkelt wird, sehen echt aus wie Cut-Scenes aus 'nem Playstation 3-Titel von ca. 2009). Erstaunlich, dass Hauptdarstellerin Isabelle Huppert für ihre Performance 2017 tatsächlich verdient für 'nen Oscar nominiert wurde, eigentlich hätte auch mindestens noch eine für den besten fremdsprachigen Film drin sein müssen.
9/10