Solange man sich noch auf jeden neuen Tarantino wie ein Kind auf Weihnachten freut, der neu im Kino anläuft, kann der Mann eigentlich gar nicht so viel falsch machen. Er scheint sich selbst nie im Zugzwang zu sehen, regelmäßig etwas Neues herausbringen zu müssen, sondern bleibt bei seinem unregelmäßigen Alle-paar-Jahre-Rhythmus – eine Einstellung, die mir sympathisch ist und die jedem Film einen gewissen Eventcharakter geben, weil sie eben aufgrund ihrer Seltenheit (neun Filme in 23 Jahren – acht, wenn man „Kill Bill“ als einen Film sieht) doch was Besonderes sind. Das gilt selbst noch für seine weniger gelungenen Filme.
Aber zuletzt hatte er sich ja wieder aus einem kleinen Loch erholt und mit der großartigen Farce „Inglourious Basterds“ und seinem ersten Western „Django Unchained“ ja zurück in die Spur gefunden, nicht zuletzt durch den kongenialen Christoph Waltz, der beide Werke bis ins Unendliche veredelte und verdientermaßen gleich zwei Oscars abstaubte.
Mit „The Hateful 8“ legt Tarantino nun – ohne Waltz – gleich seinen nächsten Western nach, diesmal noch eine Spur dreckiger – und vor allem nihilistischer. Parallelen, die man automatisch anstellt, vermeidet er von vornherein, indem er die heißen und staubigen Weiten unter knallender Sonne aus „Django Unchained“ gegen eiskalte und schneeüberdeckte Landschaften austauscht und den Wind permanent heulen läßt. Auch die Figurenkonstellation ist eine entschieden andere: Wo sich Django vom unterlegenen Sklaven zum rächenden coolen Pistolero aufschwingt und King Schultz sein treuer und freundlicher Begleiter ist, den das erlebte Leid am Ende aber die Sicherungen herausspringen lassen, sind die Helden in „The Hateful 8“ schmutzig und verdorben, gewalttätig und bösartig.
Die nominellen Hauptfiguren sind die Kopfgeldjäger Marquis Warren (Samuel L. Jackson) und John Ruth (Kurt Russell), die nun wirklich nichts Ehrenhaftes an sich haben. Sie sind mehrfache Mörder und empfinden keinerlei Mitgefühl für ihre Opfer. Der Tod ist ihr tägliches Geschäft, mit dem sie eine Menge Spaß haben, vor allem aber Ruth, der die Gejagten stets am Leben läßt, um ihrer Hinrichtung live beiwohnen zu können, wohingegen Warren, wie es scheint, kurzen Prozeß mit ihnen macht. Ruths aktuelle Gefangene ist die Schwerverbrecherin Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh), ein durch und durch durchtriebenes und abstoßendes Monstrum von Frau, das es liebt, andere zu provozieren und dafür auch blutige Schläge billigend in Kauf nimmt. Vierter Mitspieler ist der rassistische Mannix (Walton Goggins), der sich als Sheriff ausgibt, ohne es beweisen zu können.
Dieses Quartett schlägt in Minnies Miederwarenladen auf, in dem sich bereits vier weitere Männer vor dem Schneesturm in Sicherheit gebracht haben und es wohl oder übel so lange miteinander aushalten müssen, bis die Wetterlage sich bessert: Oswaldo Mobray (Tim Roth), der Domergue erhängen soll, Cowboy Joe Gage (Michael Madsen), Mexikaner Bob (Demián Bichir) und der alte General Sandy Smithers (Bruce Dern). Pfeffer erhält die reizvolle Grundkonstellation durch das latente Mißtrauen untereinander, denn hier ist nicht jeder der Männer der, als der er sich ausgibt, und nicht alle Beweggründe ihres Aufenthalts in dieser Holzhütte liegen offen auf dem Tisch.
Beste Voraussetzungen für ein Kammerspiel, könnte man sagen, nur ist Tarantino Tarantino und wird es auch immer bleiben. Nicht zum ersten Mal sitzt er dem Irrglauben auf, eine Lauflänge von weit über zwei Stunden wären für seine Plots zwingend notwendig, egal ob sie es hergeben oder nicht. Und seien wir ehrlich: „The Hateful 8“ gibt das einfach nicht her, und man würde sich mehr als einmal wünschen, jemand würde ihm mal die Grenzen aufzeigen und sagen, nicht jeden Dialog, den er ausformuliert hat, müsse auch in die finale Fassung. So quatschen sich die Protagonisten in der viel zu langen Einleitung regelrecht zu Tode, während man sich längst wünscht, wir hätten endlich die Ausgangslage erreicht, die uns die grobe Inhaltsangabe versprochen hat. Die Standpunkte sind mit der Aufnahme von Mannix in die Kutsche schnell ausgetauscht, aber dennoch geht der Dialog noch minutenlang weiter, was hier noch besonders auffällt, weil er nicht einmal sonderlich pfiffig geschrieben, sondern verblüffend zahnlos ist.
Dies trifft selbst auf die folgenden ersten Szenen am Hauptschauplatz, dem Miederwarenladen, zu, wenn die noch fehlenden Charaktere etabliert werden. Leider bleiben sie dabei – für Tarantino ungewöhnlich – eher uninteressante Nebenfiguren, angefangen bei Gage und dem Mexikaner Bob und fortgeführt bei Smithers. Einzig Oswaldo fällt etwas auf, das aber auch nur, weil Tim Roth hier sogar vom Aussehen her geradezu irritierenderweise Waltz’ King Schultz aus „Django Unchained“ in Gestik und Mimik wieder aufleben läßt. Hier wäre wünschenswert gewesen, die Zeit, die man für die Exposition aufgewendet hat, in eine aufregendere Skizzierung dieser Personen zu stecken. Wirklich schade, denn was hätte das bei dem Cast für ein kribbelndes Kammerspiel werden können! Stattdessen: ein lethargisch gewordener Film, so schwerfällig wie die vielen alten und mittelalten Männer, die die Handlung bekleiden.
Doch nach geschlagenen 90 Minuten – wir wissen immer noch nicht so richtig, wohin Tarantino uns führen will – passiert es: „The Hateful 8“ wacht mit einem Schlag auf. War der Film bislang mit einer Eisenbahn zu vergleichen, die nach Normalstart immer langsamer wird und fast zum Erliegen kommt, so nimmt er plötzlich Fahrt auf und fängt an, richtig Spaß zu machen. Dafür bedarf es einer mitreißenden und in Kontrast zu dem nur schwach beleuchteten Handlungsort im grellweißen Schnee vor strahlend blauem Himmel gesetzten Rückblende, in der Warren erstmals sein wahres Gesicht zu erkennen gibt. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Geschichte, die man durchaus in Zweifel ziehen und als bloße Provokation abtun kann, setzt er verbal an derber Bösartigkeit nicht zu überbietende Nadelstiche in Richtung des alten Generals, die ihn als potentiellen Helden endgültig disqualifizieren. Dazu läuft leise im Hintergrund Ennio Morricones Score, mit dem dem Altmeister ein würdiges Alterswerk gelungen ist – sehr sparsam eingesetzt und vielleicht gerade deshalb maximale Wirkung.
Von nun an hat der Film die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums, rechtzeitig zum vierten von insgesamt sechs Kapiteln, in dem der bis dahin straight inszenierte geschwätzige Western umkippt. Ein bislang durch Abwesenheit glänzender Erzähler dreht für uns die Zeit zurück und macht aus „The Hateful 8“ ein gleichsam suspensehaltiges wie auch verspieltes und extrem blutrünstiges Zehn-kleine-Negerlein-Stück, das auf dem schmalen Grat zwischen greller Comic-Gewalt und schockierender Brutalität entlangschreitet und sich später erneut in eine andere Richtung dreht. Ganz beiläufig gelingen Tarantino dabei einige Bilder, die sich auch in einem Horrorfilm gut machen würden (etwa von einem mit Blut übersäten Gesicht, inklusive hysterischer Lache), während seine Dialoge wieder wie geölt laufen und sich skurriler und schwarzer Humor mehr und mehr häufen.
Gewohnt souveräne Leistungen vollbringt Tarantinos Cast, der sich größtenteils aus Regulars zusammensetzt: Jackson beherrscht seinen „Bad Motherfucker“ mittlerweile sicherlich schon im Schlaf, aber solange er so viel Freude daran hat wie hier, soll er es gern tun. Ich habe ihn in solchen Rollen allerdings leider schon das eine oder andere Mal zu viel gesehen, so daß ich mich eher darüber freue, wenn er seine Qualitäten anderweitig unter Beweis stellt, wie etwa als schwarzer Diener Stephen in„Django Unchained“. Für Russell gilt das Gleiche, aber trotzdem immer wieder schön, ihn zu sehen. Positiv auch Goggins (schon in „The Shield“ eine Klasse für sich), der nicht nur die wohl vielschichtigste Rolle als Sheriff-oder-nicht abbekommen hat, sondern auch der Einzige ist, der in den müden Phasen des Films die dringend nötige Agilität hineinbringt. Roth ist wie gesagt zu sehr Waltz, um ihn ernsthaft beurteilen zu können, Bichir wenig auffällig und Madsen irgendwie total verschwendet. Das würde ich auch von dem eigentlich immer hervorragenden Dern sagen, wenn er nicht Hauptdarsteller in der wohl besten Szene wäre. Amüsant einmal mehr James Parks als unglückseliger Kutscher O.B., der ständig in die Kälte nach draußen muß. In Kurzauftritten geben sich Zoë Bell und – jawohl – Channing Tatum die Ehre. Der wahre Star aber ist Jennifer Jason Leigh mit gehörigem Mut zur Häßlichkeit als verabscheuenswerte Schlampe, der Tarantino wohl gesagt hat, ihre Rolle als größte Haßfigur aller Zeiten anzulegen, und das gelingt ihr mühelos.
Was bleibt zu sagen? Für „The Hateful 8“ hat sich letzten Endes der Kinobesuch doch wieder gelohnt, gerät er doch nach viel Langatmigkeit in der zweiten Hälfte völlig außer Rand und Band und überrollt die Zuseher durch Überraschungen noch und nöcher – etwas, das Tarantino immer noch in Perfektion beherrscht, weshalb man nur froh sein kann, daß er von „Reservoir Dogs“ bis heute noch nicht richtig erwachsen geworden ist und mit dem Schalk im Nacken halt immer noch das dreht, worauf er Bock hat. Seine Sperenzchen könnte er, wenn er wollte, sich theoretisch sicherlich auch mal für einen ganzen Film verkneifen – und es würde mich mal interessieren, wie ein solcher Film aussehen würde, wenn er sich eine durchgängige Ernsthaftigkeit bewahren würde (ich traue ihm zu, daß er es kann) –, aber er will es nicht, und solange er nicht will, bekommen wir halt nach wie vor unsere Ladung extravaganten Tarantino-Stoffs. Love it or hate it. 7/10.