Die Kamera befindet sich unter der Wasseroberfläche ... gleitet am Meeresgrund entlang ... durch die Meeresvegetation ... dreht sich zur Oberfläche. Ein Körper ... ein Junge ... schwimmend ... er sieht etwas auf dem Meeresboden, macht kehrt, schwimmt zurück zum Ufer. Alles, was diesen Film ausmachen wird, deutet sich hier schon an: Langsamkeit, Ruhe, unterschwellige Bedrohlichkeit.
Lucas, so heißt der Junge, hat die Leiche eines anderen Jungen entdeckt. Ein roter Seestern lag auf dessen Bauch. Lucas beginnt Fragen zu stellen. An seine Mutter (?), eine grau gekleidete Frau mit bleichem Gesicht. Sie leben auf einer kleinen Insel. Nur Frauen und männliche Kinder. In spartanisch eingerichteten Häusern. Die Mahlzeiten sind sonderbar, wie eine Mischung aus Algenspinat mit Spulwürmern. Lucas' Fragen provozieren Reaktionen. Er wird mit Medikamenten traktiert und in einem "Krankenhaus" behandelt. Und allmählich bekommt er immer mehr Hinweise darauf, dass sein weiteres Leben in deprimierender Weise vorherbestimmt ist.
Lucile Hadzihalilovic gelingt mit EVOLUTION eine echte Sensation. Über die ganze Laufzeit eine stringent inszenierte Ästhetik, dabei nie selbstverliebt oder gar kopflastig. Nein, dieser Film ist wunderschön und sinnlich. Überzeugende Schauspielerleistungen. Von der ersten Minute an eine bedrohliche, unheimliche, unangenehme Stimmung. Kein Lärm, auch Musik ist fast nie zu hören. Nur das Schlagen der Brandung an die Uferfelsen, der wehklagende Wind, Regentropfen .... Welch eine Wohltat, verglichen mit den überlärmten Outputs modern Horrorfilm-Schaffens. Keine dummen Witze, überhaupt kein Humor. Sehr schön. Und keine übertrieben explizite Gewalt.
Der einzige Film der Fantasy Filmfest White Nights, der das Prädikat Horrorfilm wirklich verdient hatte (ganz anders als z.B. der völlig missratene BASKIN mit seinen ausgelutschten Ideen aus der Mottenkiste des Genres).
EVOLUTION ist gerade wegen seiner Langsamkeit, des Fehlens wichtigtuerischer Hektik, der Verweigerung, seine Geschichte auch nur ansatzweise zu erklären, durchgängig unfassbar spannend. Dabei bietet er genügend Denkanstöße, die Interpretationen erlauben und einen herausfordern, diesen Film mehrmals anzusehen. Ein (Alp-) Traum.
9,5/10