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Als der wohlsituierte Banker Carlos (Luis Tosar) eines morgens am Weg zur Arbeit in seinen schwarzen X5 steigt und vorher noch seine beiden Kinder in die Schule bringen möchte, ahnt er noch nicht, daß sich an diesem Tag sein ganzes Leben verändern wird - denn als er gerade losgefahren ist, teilt ihm ein unbekannter Anrufer mit, daß er in der Nacht zuvor Sprengfallen unter den Sitzen in seinem SUV installiert hat. Carlos, der an diesem Morgen im Auftrag seines Dienstgebers einige hochrisikoreiche Anleihen betuchter Kunden platzieren muß, kann zunächst gar nicht glauben, daß er, der sich als kleines Rädchen im großen Räderwerk der Finanzwelt fühlt, selbst erpresst wird - und zwar um genau den Betrag, über den seine Frau und er im Moment verfügen können zuzüglich einer weiteren Summe, insgesamt fast eine halbe Million Euro. Der Unbekannte kennt sich in der Bankenwelt offenbar sehr gut aus und erhöht per Handy zunehmend der Druck auf den gestressten Carlos, der im dichten Stadtverkehr nicht nur seine fragenden Kinder auf der Rückbank im Zaum halten muß, sondern auch Kundengespräche führen und Investitionssummen an Land ziehen muß, welche dann sofort auf das Konto des Erpressers überwiesen werden. Während ihm dies vorerst mehr schlecht als recht gelingt, hat sein Kollege und Mitarbeiter, der ihm bei den Transaktionen assistieren soll und ebenfalls auf einer Bombe in seinem Wagen sitzt, weniger Glück: Dessen aufgeregte Frau steigt trotz aller Warnungen aus und löst damit eine tödliche Detonation aus - spätestens jetzt ist klar, daß der unbekannte Anrufer nicht blufft. Verzeifelt versucht Carlos in diversen Kundentelefonaten während der Fahrt die Summe zusammenzubekommen, allerdings ist sein kleiner Sohn durch einen Querschläger am Bein verletzt und auch die Polizei wird auf die Sache aufmerksam...

Mit Anrufer unbekannt hat Regisseur Dani de la Torre einen spannenden Thriller abgeliefert, der sich fast ausschließlich im Nobel-BMW des Bankers abspielt und in La Coruña im spanischen Galicien realisiert wurde. Geschickt läßt das Drehbuch den Zuschauer durch die Perspektive von Carlos miträtseln, wer der zu allem entschlossene Anrufer sein könnte und was seine Motive sein mögen - dabei bricht Stück für Stück die Fassade einer Banker-Existenz zusammen, was Hauptdarsteller Luis Tosar sehr überzeugend darzustellen vermag. So überzeugend, daß sich der Zuseher trotz dessen wenig rühmlicher Vorgeschichte schnell auf Carlos´ Seite schlägt. Der - wenngleich erzwungenermaßen - vom Saulus zum Paulus mutierende Filialleiter, der für seine Ehefrau wie für seine Kinder selten bis nie Zeit gehabt hatte, steht mit zunehmender Dauer immer mehr unter Streß und kann schließlich nur noch die Scherben seiner Existenz aufkehren: In der kurzen Zeit verliert er beinahe alles - die Bank schmeißt ihn raus, nachdem die ersten Transaktionen ruchbar werden, die Polizei hält ihn selbst für den Erpresser (der sich mit seinen Kindern auf der Rückbank in die Luft sprengen will) und läßt Scharfschützen anrücken, und überdies muß er sich von seiner minderjährigen und aufmümpfigen Tochter anhören, daß seine Ehefrau offenbar schon seit Längerem ein Verhältnis mit dem Vater eines Schulfreundes hat... und über alledem schwebt die ständig erneuerte Drohung des Erpressers, den Wagen in die Luft zu jagen.

Wem der Plot dieses temporeichen Road-Movies bekannt vorkommt, hat vielleicht das nur drei Jahre später 2018 in Berlin abgedrehte deutsche Remake des Stoffs unter dem Titel Steig. Nicht. Aus! mit Wotan Wilke Möhring in der Hauptrolle gesehen; das spanische Original verdient sich jedoch eine noch etwas höhere Wertung, was besonders dem Auftritt inklusive Sympathiebonus des hervorragend aufspielenden Luis Tosar zu verdanken ist: Wie der zunächst indifferent auftretende Banker mit den markanten Augenbrauen zunehmend unter Druck gerät und schließlich immer mehr wankt, aber trotz aus allen Richtungen auf ihn einprasselnden schlechten Nachrichten nicht zerbricht, ist in jedem Fall sehenswert. Der Seitenhieb auf die typischen Tätigkeiten von Bank-Managern erfolgt dabei ohne erhobenen Zeigefinger, wenngleich der reuige Carlos am Ende deutlich ausspricht, was Sache ist: "Wir wußten genau, was wir taten..."
Über einige wenige Logiklöcher (z.B. wie die den Buben verletzende Scherbe durch die unversehrten Scheiben des X5 ins Wageninnere fliegen konnte, wie der Erpresser das übergebene Polizei-Walkie-Talkie sehen und seine ständigen Anrufe bei Carlos trotz unmittelbarer Nähe zum Geschehen unbemerkt bleiben konnten) mag man großzügig hinwegsehen, denn eine tadellose Kameraarbeit (mit einigen Helikopter-Perspektiven), überzeugende Darsteller (auch in den Nebenrollen von der pubertierenden Tochter über die Sprengstoff-Expertin Belén bis hin zum sich am Schluß offenbarenden Erpresser) machen diese spanische Produktion, die in rasantem, aber nie überstürztem Erzähltempo ohne überflüssige Längen abgefilmt wurde, zu einem packenden Sehvergnügen. 8,51 Punkte.

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