Review

- enthält leichte Spoiler -

Der 11. September 2001:
11 Geschichten, 11 Blickwinkel aus 11 verschiedenen Ländern in völliger Gestaltungsfreiheit.
So unterschiedlich verarbeiten die Menschen in aller Welt die Ereignisse, beeinflusst von Kultur, Religion und persönlichen Erfahrungen.
Jeder Kurzfilm umfasst 11 Minuten, 9 Sekunden und ein Frame.

Die erste Episode aus dem Iran erzählt von einer Lehrerin, die ihren, noch recht jungen Schülern, die bedeutenden Ereignisse von New York nahe bringen und zu einer Schweigeminute aufrufen möchte. Doch die etwa Sechsjährigen können das Ausmaß der Katastrophe nicht erfassen, sind mit lokalen Tragödien beschäftigt (beim Brunnenausheben sind zwei verunglückt) und mit der Frage, ob Gott überhaupt ein Flugzeug besitzt, um in einen Turm zu fliegen.
Ein etwas zäher Auftakt, der zwar ein paar interessante Einblicke in die iranische Kultur bietet, von der Aussage her aber relativ banal bleibt. Ob es sich nun um junge Flüchtige handelt, oder um einen Kindergarten irgendwo in Deutschland, die Problematik bei solch einem Ereignis gegenüber Kindern ist die gleiche. Die ganz jungen Darsteller überzeugen allerdings durch ihr natürliches Auftreten und lassen ihre offenen Gedanken durchaus nachvollziehbar wirken.

Die folgende Geschichte aus Frankreich bietet demgegenüber einen emotionalen Höhepunkt des Episodenfilms.
Eine taubstumme Französin ist seit einem Jahr in New York und mit einem Führer für taube Menschen zusammen. Doch die Liaison scheint am Ende. Am Morgen des 11. September schreibt sie einen Trennungsbrief an ihren Freund, der sich momentan in der Nähe der Zwillingstürme befindet.
Der Zuschauer nimmt rein tontechnisch die Lage der Tauben ein, nur einige Geräusche sind dumpf und leise wahrnehmbar.
Und während sie etwas weiter hinten schreibt, sieht man vorne den Fernseher mit den Bildern vom Einschlag im WTC. Man wartet förmlich darauf, dass sie endlich hinsieht, ihren Abschiedsbrief unterbricht, die für den Zuschauer schmerzenden Worte einstellt.
Nur ein Wunder könnte ihre Beziehung noch retten und dieses stellt sich kurz darauf auch ein.
Die Geschichte geht, trotz einfacher Aussage, zu Herzen und kann zudem eine überaus glaubwürdige Hauptdarstellerin hervorbringen. Eine Episode, dicht angesiedelt am eigentlichen Ereignis, wie es sich vielleicht dutzendfach in der Realität abgespielt hat.

Mit der Story aus Ägypten kommt dann politische Provokation ins Spiel: Ein Filmemacher trifft den Geist eines verstorbenen US-Soldaten und den eines palästinensischen Selbstmordattentäters.
Kritik an Israel wird laut, die gegen die USA noch lauter. Der Beitrag will zwar irgendwo zwischen den Zeilen versöhnen, doch er polarisiert zu sehr und am Ende steht viel mehr eine politische Aussage, als ein Bezug zum 11. September.
Vielleicht lieb gemeint, doch im Endeffekt einseitig und kalt innerhalb der Inszenierung.

Etwas zurückhaltender, aber auch weniger ansprechend, gestaltet sich der Beitrag aus Bosnien, der das Schicksal einiger krisenerschütterter Frauen schildert, die sich zu jedem 11ten des Monats stillschweigend zum Protest auf die Straße begeben.
Sie tun dies auch – oder erst recht, aus Solidarität, am 11. 09. 2001.
So authentisch die vom Leid gezeichneten Frauen auch wirken, wenn sie, ohne eine Mine zu verziehen, die Ereignisse im Radio verfolgen, so schwer fällt dem Betrachter der Zugang zur Situation. Eine merkwürdige Gleichgültigkeit liegt über dem Geschehen, welches sich wohl nur nachvollziehen lässt, wenn man die Folgen des Jugoslawien-Konflikts miterlebt hat.
Allerdings wurden hier die Kulissen gut gewählt, denn sie vermitteln Leere, Einsamkeit und tiefe Trauer. Etwas, was ich bei den Protagonisten, und dem Zugang zu ihnen, schmerzlich vermisst habe.

Ganz und gar nicht traurig gestaltet sich der Beitrag aus Burkina Faso.
Ein Schüler, der Geld für seine kranke Mutter benötigt, wittert, gemeinsam mit Mitschülern, die Chance auf das große Geld. Seit ein paar Tagen sind die Zeitungen voll von Usama bin Laden und der Junge ist sich sicher, ihn genau hier in seinem Heimatdorf gesichtet zu haben.
Die Schüler schnappen sich eine Kamera und verfolgen den mutmaßlichen Terroristen.
Eine pfiffige Idee, die mir makabererweise auch schon mal durch den Kopf ging. Auch wenn die Fragestellung absurd erscheint: Wie verhält man sich, wenn der meistgesuchte Verbrecher der Welt plötzlich im eigenen Heimatort mutterseelenallein durch die Gegend schlendert.
Mit viel Witz, sozialkritischen Ansätzen und gut aufgelegten Jungdarstellern bildet dieser Beitrag einen überaus ansprechenden und sympathischen Part. Er stimmt bezüglich des Herkunftslandes nachdenklich, beweist aber Esprit im Zusammenspiel der Protagonisten und zeigt Hoffnungsmomente in einem ansonsten armen Burkina Faso.

Der Beitrag aus Großbritannien stößt bei mir in mehrerlei Hinsicht bitter auf: Hier erzählt ein Exil-Chilene von den Ereignissen am 11. September 1973. In Chile wird der amtierende Allende ermordet, Pinochet übernimmt die Macht und richtet Sympathisanten Allendes durch Folter und Mord. Im Zuge des blutigen Putsches, unterstützt durch die amerikanische CIA, kommen etwa 30000 Menschen ums Leben.
In teilweise harten Footage-Szenen, die die historischen Ereignisse dokumentieren, klagt der Chilene an und zeigt, wie viel Leid unter dem globalen Einfluss der Amerikaner entstanden ist.
Doch ist dies eine Waagschale, um die Ereignisse mit dem WTC-Crash zu messen oder gar zu begründen?
Die sehr persönliche Sicht des Autors wirkt geradezu so, als wolle er die Katastrophe von 2001 schmälern, ja sogar rechtfertigen.
Mit allem Respekt und Mitgefühl gegenüber den Menschen, die das damals in Chile miterleben mussten, aber so intensiv (und an anderer Stelle auch gerechtfertigt) dieser Beitrag auch ist, so deplaziert wirkt er doch hier.

Nun, es folgt der Beitrag aus Mexiko. Endlich ein Name, mit dem ich etwas anfangen kann: Regisseur Inarritu. Der Mann, der bereits großartige Filme wie „Amores perros“ oder „21 Gramm“ hervorgebracht hat.
Aber sein Beitrag enttäuscht leider fast komplett. In den etwa 11 Minuten ist fast ausschließlich ein schwarzes Bild zu sehen.
Der Regisseur überlässt es der Erinnerung des Zuschauers, aus der Soundcollage ein paar Bilder anzufertigen.
Man hört Gebete, Anrufe der Passagiere beim Flug 93, Reporterstimmen, Flugzeugklänge und gegen Ende etwas Musik, streicherbetont und sehr gefühlvoll.
Die einzigen Bilder, zunächst nur in einzelnen Frames, zeigen Menschen, die vom WTC springen und schließlich den Zusammenbruch der Türme.
Um am Ende kann man lesen: „ Does God´s light guide us or blind us?“
Inarrito ist sich offenbar selbst nicht so sicher und belässt den Bildschirm deshalb überwiegend schwarz.
Als Hörspielexperiment tauglich, aber als Episode für diesen Anlass reichlich ermüdend und gehaltlos.

Der Kurzfilm aus Israel bringt eine ansprechende Portion Medienkritik zum Vorschein. Auf den Straßen Tel Avivs sind soeben zwei Autobomben hochgegangen. Ein unglaublich hektisches Gewusel von Einsatzkräften, Polizei und Rettungswagen. Mittendrin eine Reporterin, die ständig in die Kamera spricht und mit historischem Wissen über Jahrestage des 11. September prahlt. Doch sie kommt nicht auf Sendung, weil sie noch nichts von den schrecklichen Ereignissen in New York ahnt.
Authentischer konnte man die Szenerie in Tel Aviv kaum rüberbringen. Autos brennen, Einsatzkräfte agieren hektisch, die Polizei drängt Reporter und Fotografen zurück und der Zuschauer ist mitten im Geschehen.
Erschreckend, welches Ausmaß bereits „kleinere“ Terroranschläge haben, so wie sie in dieser Szenerie lebensnah geschildert werden.

Die Episode aus Indien beruht auf einer wahren Begebenheit. Eine Pakistanische Mutter sucht in New York ihren Sohn. Seit den Terroranschlägen ist er verschwunden und gilt für das FBI, die Medien und somit auch die Öffentlichkeit als Terrorist. Erst ein halbes Jahr später wird seine Leiche identifiziert. Er war einer der aufopferungsvollen Helfer während der Katastrophe.
Ich erinnere mich, wie kurz nach den Anschlägen das Misstrauen gegenüber arabisch aussehenden Leuten wuchs, teilweise sogar globaler Hass geschürt wurde.
Die Geschichte bringt diesen Aspekt deutlich auf den Punkt, erschreckend, wie schnell Vorurteile geschürt werden und wie die Medien sie fördern. Vielleicht etwas sachlich geschildert, vermittelt dieser Beitrag eine nicht minder wichtige Botschaft, die sich vor allem auf die Situation kurz nach den Terroranschlägen bezieht und sich seitdem auch nicht unbedingt geändert hat.
Ein etwas plakatives, auf der anderen Seite aber wirkungsvolles Plädoyer .

Es folgt die Sequenz der USA, Regisseur Sean Penn.
Ernest Borgnine spielt einen vereinsamten Witwer in einem dunklen Appartement. Er spricht mit sich, den Gegenständen und seiner verstorbenen Frau, der er sogar Kleider zurechtlegt.
Die verdörrte Pflanze auf der Fensterbank spiegelt sein Innenleben, es bedarf Licht, um zu leben, aber auch Licht, um die dunklen Schatten der Vergangenheit auszulöschen.
In dem Moment, als das Word Trade Center kollabiert, sind die Schatten in seiner Wohnung verschwunden. Die verdörrte Pflanze erblüht, die er sogleich seiner Frau zeigen will. Doch da realisiert er ihren Tod.
Ein intensiver Beitrag, der der versierten Inszenierungsart Penns zu verdanken ist. Die Bilder sprechen für sich, sie sind kunstvoll angeordnet, teilweise mit Split-Screen und mittendrin der sympathische Ernest Borgnine, dem man durchaus länger als 11 Minuten bei Monologen und Alltagssinnieren zusehen kann.
Es ist schon rein optisch der Hammer, wie die beiden Türme als Schatten an der Wand zusammenbrechen und Licht in die Wohnung und auf das Gesicht des schlafenden Witwers dringt.
Viele amerikanische Zuschauer kritisieren diese Geschichte als unangebracht in seiner Aussage, jedoch hat die anfängliche Freude des Witwers nichts mit dem Zusammenbruch des WTC zu tun, vielmehr ist es eine Metapher. Denn der Witwer bricht zusammen, als er realisiert, dass sein „Zwillingsturm“, seine Frau, nicht mehr da ist.
Inszenatorisch eine Wucht, superb gespielt und intensiv an Gefühlen, ist Penns Beitrag der Höhepunkt des Episodenfilms.

Kommen wir zum Abschluss aller Episoden, dem Beitrag aus Japan.
Hier wird die Geschichte eines Soldaten geschildert, der im 2. Weltkrieg Schreckliches erlebt haben muss und in dem Glauben eine Schlange zu sein, zurückkehrt.
Im Kreise seiner Familie spricht er kein Wort, zischt nur, frisst eine lebendige Ratte und wird alsbald vertrieben. Doch das Dorf fürchtet um Ansehen, und will den Schlangenmann wieder einfangen. Am Ende die Botschaft: „Kein Krieg ist heilig“.
Die Inszenierung ist durchaus ansprechend ausgefallen, nur stelle ich mir die Frage, was ein solches Mystery Phänomen mit den Terroranschlägen zu tun hat.
Krieg ist scheiße, sie mal, was es aus den Beteiligten macht, ist hier die einzige Aussage, die sich überhaupt nicht in den Kontext der übrigen Beiträge einfügen will.
Woanders sicherlich besser untergebracht.

Insgesamt jedoch ist dieser Episodenstreifen höchst ansprechend, wenn auch recht anstrengend zu sehen, nicht nur durch die jeweilige Originalsprache mit Untertiteln.
Er bietet einen Trip rund um die Welt, mit Einsichten und Ansichten verschiedener Kulturen und Religionen.
Dabei liegt mir der politisch-provokante Stil fast gar nicht, etwaige Episoden haben mich entweder nicht angesprochen oder gar verärgert, globale Schuldzuweisungen in Form von politischen Stellungnahmen halte ich persönlich für unangebracht, politisch engagierte Zuschauer werden das möglicherweise genau umgekehrt betrachten.
Die rein menschlich emotionalen Geschichten, haben mich hingegen sehr berührt.
Aber allein, die Idee des Produzenten, mehrere Länder in dieses Projekt einzubeziehen, ist die Ansicht schon wert.
Vielleicht der würdevollste, aber auch ehrlichste Beitrag zum 11. September 2001.
Auf jeden Fall einer, der für Gesprächsstoff sorgt und bei dem eine Menge denkwürdiger Szenen einige Zeit zum Verarbeiten benötigen.
7,5 von 10

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