Get Free or Die Tryin'
In Zeiten von Flüchtlingskrisen, jahrelangen EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, von Glaubenskriegen & selten differenzierten Debatten über die andere Kultur & Einstellung von Menschen mit dem Islam als Glauben, trifft diese tieftraurige & gleichzeitig mutmachende Geschichte von 5 Teenager-Schwestern in der Osttürkei voll den Zeitgeist. Und voll mein Herz. Selten hat mich dieses Jahr ein Film so mitgenommen, nachdenklich gemacht wie "Mustang". Eine absolute Entdeckung & eine der kleinen Perlen, die sonst so neben dem Mainstream (leider) meist mit wenig Beachtung daherdümpeln. Ich drücke dem Film in der Nacht auf Montag jedenfalls alle Daumen für den Auslandsoskar, der mehr als verdient wäre, wohl aber eher an (den ebenso guten) "Son of Saul" gehen wird. Die Hoffnung stirbt aber bekanntlich zuletzt - genauso wie bei den fünf (anfangs) lebensfrohen Mädchen im Film, die orkanartigen Gegenwind aus ihrem Dorf & ihrer Familie spüren, als sie erwachsen werden, Frauen werden, einfach leben - von Zwangsheiraten über "kackbraune" Roben bis zu einem gefängnisgleichen Haus.
Nicht nur weil der Film gleichzeitig eine intime wie globale Geschichte über verzweifelte, nach Westen drängende junge Frauen zeigt, sozusagen eine Revolution in Filmform, sondern auch weil gerade Deutschland mit die meisten türkischen Mitbürger hat & diese absolut zu unserem Alltag zählen, mit allen Vorteilen & Schwierigkeiten, sollte "Mustang" vor allem hierzulande ein viel größeres Publikum erreichen, könnte Dinge verändern. Sowohl in der Türkei als auch hier, sowohl bei Mädchen wie auch allen anderen Menschen, sowohl bei "besorgten Bürgern" wie bei "Gutmenschen". Diese Offenbarung von Debütfilm hat eine solch innere Stärke & Drang auszubrechen, Grosses zu bewegen, dass ich teilweise mit offenem Mund in der Deutschlandpremiere saß. Und da war ich bei weitem nicht der Einzige, was lange Sprachlosigkeit während des Abspanns verdeutlichte. Und auch wenn der Film seine Botschaft vielleicht teilweise zu leicht & einseitig preisgibt, berührt seine menschliche Art & seine stummer Schrei nach Freiheit tief. Ein wichtiger, wachrüttelnder Film.
Bei mir blieb neben Staunen auch eine Art traurige Leere zurück, und der Film ist zwar von Hoffnung & Strahlen durchzogen, im Endeffekt aber doch erschütternd. Und dabei denkt man, man könne sich in etwa vorstellen, wie in den ländlicheren Gebieten der Türkei Dinge wie Ehrenmorde & Zwangsheirat passieren - trotzdem saß der Schock. Das liegt vor allem an den 5 bezaubernden Schwestern, jede für sich "einzigartig", aber unbestritten eine Einheit, das einzig Positive & Spaßige, was ihnen im Leben bleibt. Das die 5 noch keine bis kaum Erfahrung in Sachen Schauspiel haben, ist eindrucksvoll & genauso ein Hammer wie der Film als Erstlingswerk der anscheinend extrem talentierten türkischen Regisseurin. Das allen der Stoff & die Botschaft am Herzen liegt, spürt man in jeder Phase & jedem Blick. Von großer Freude & Freiheit wie bei einem Fußballspiel, mit rein weiblichen Fans im Stadion, bis zum (etwas zu) verteufelten Vater, der seine Tradition & Werte mehr als eng sieht, bietet "Mustang" eine erstaunliche Palette an Emotionen. Durch die nahe (Hand-)Kameraführung fühlt man sich extrem im Geschehen & man leidet spürbar mit. Gegen Ende entwickelt sich der Film in eine so düstere Richtung, dass das Genre Drama eigentlich kaum noch ausreicht. Die manchmal etwas den Film streckenden Einstellungen der Mädchen beim Spielen, lassen den Film vielleicht länger wirken als er ist & der Vater hätte, differenzierter dargestellt, vielleicht noch mehr türkischen Eltern zur Identifikation getaugt. Aber insgesamt geht der Film auch so unter die Haut & berührt. Ein Highlight 2016.
Fazit: ein Film wie ein Wirbelsturm im Bauch, ein Befreiungsschlag gegen die konservativen, unschönen Seiten der Türkei & eine Must-See für alle heranwachsenden Mädels weltweit. Und für den Rest eigentlich auch, denn selten haben einen Schönheit & Schmerz so sehr verfolgt!