Für mich ist es, ehrlich gesagt, nicht interessant, irgendeinen heruntergeranzten Jesus Christus nachher auf so einem Pergamentpapierchen zu finden, neben einer Qumranrolle und dann sagt man: das ist der Jesus, aha, ist aber sehr realistisch gemalt. […] Sondern für mich ist es eigentlich viel faszinierender zu sehen, wie der Typ so mit fünfzehn Lanzen durchstochen und gebrochenem Bein und austretender Galle und was weiß ich was am Kreuz hängt. Da ist viel mehr an Leben drin, und vielmehr an Wahrheit und Sympathie. (aus dem Interviewfilm "Christoph Schlingensief und seine Filme")
Um Mel Gibsons "Passion of the Christ" geht es nicht, aber um das Suchen und Finden der Wahrheit in der radikalen metaphorischen "Überhöhung". Christoph Schlingensief spricht in Bildern. Er atmet sie, isst sie, scheidet sie aus. Als die Mauer gefallen ist, sitzen Ostdeutsche in ihren Trabis, halten Bananen in den Händen und brüllen. Sie skandieren ihre Losung: "Wir sind das Volk". Schlingensief sieht in diesem Bild nur Affen. Er sieht auch "The Texas Chainsaw Massacre" sowie dessen "doppeldeutigen" zweiten Teil. In seiner wunderlichen Gedankenwelt beginnt die Idee für ein expressionistisches Schlachtgemälde zu reifen: Wessis verarbeiten Ossis zu Wurst.
Jenes vollendete Schlachtgemälde gärt. Es torkelt, schaukelt, kotzt sich aus. Es stülpt die Eingeweide Gesamtdeutschlands nach außen und wühlt in der Scheiße. Es sucht Wahrheit darin und findet Wahrheit. Grunzen und grölen, sägen und ficken, und ein Penis, erigiert, versteckt sich im Schrank - alles Chiffren, die es zu entschlüsseln gilt. Eine politisch motivierte Groteske ist "Das Deutsche Kettensägenmassaker", eine ungemein bizarre und zugleich sehr komische; entstanden heraus aus dem Moment des Ereignisses, innerhalb von zwei Wochen nach dem 3. Oktober 1990.
Die alte Ordnung war Vergangenheit, die neue gab es nur auf dem Papier. Schlingensiefs Werk ist die Projektion jener Impressionen. Es herrscht ein Chaos, in dem sich kein Plot erschließen lässt, zumindest keiner, der etwas klassisch zu erzählen hat. Die Struktur ist zersägt, die Form ist Wurst. Mit schriller Soundkulisse und überwiegend aus der Hand filmender Kamera entsteht Klaustrophobie im freien Raum. In der Trashphilosophie ist jeder Effekt als Effekt entlarvt; hier wird auch dies noch überzeichnet und sich das Make-up gleich selbst aus dem Gesicht gerissen. Aus den bildästhetischen Konventionen hat sich Schlingensief ganz deutlich ausgeklinkt. Jesus ist nicht realistisch gemalt, Jesus blutet wie eine Sau. In diesem Wurst-Expressionismus verwundert es überhaupt nicht, dass selbst die Psychosen der Figuren noch übersteigert werden und diese Hillbillie-Metzger mehr als nur Irre sind: hyperaktive, immer stöhnende Amokläufer, ständig auf der Suche nach Orgasmen.
Margit (Susanne Bredehöft) ist die Geilste. Leckt sich, leckt Gedärm, leckt alles. Diese hinterwäldlerischen Gestalten haben ihr Innerstes ebenfalls nach außen gekehrt. Dafür streifen Schlingensiefs Darsteller die Oberfläche des bigotten Gesellschaftsmenschen ab, holen alles Animalische hervor und verwandeln sich zu brüllendem, stöhnendem Schlachtabfall. Zu sehen sind Entartungen, die sich über Symbolik definieren. Artur (Artur Albrecht), Ostdeutscher, ist in den Westen abgehauen und nun "gestählt" und busy, was ihn freilich aber nicht davor bewahrt, die Kettensäge mehrmals in den Bauch gerammt zu bekommen. Der Ossi muss bluten, der Wessi schwingt das Werkzeug zur Zweiteilung, Dietrich (Dietrich Kuhlbrodt) unter anderem, der entzwei teilt und irgendwann entzwei geteilt wird. So was kommt von so was.
Udo Kier mimt indes Amerika-Rückkehrer Jonny. Der zeigt uns amerikanisches Entertainment und hat gleich eine neue Show im Programm: Hand abhacken und mit dem Stumpf ein Peace-Symbol an die gekachelte Wand malen. "Peace, Alter, Peace". Dem Ossi begegnet er mit "Stasi-Sau, Stasi-Sau!" Wieder Säue, wieder Sauerei. Jeder Ostdeutsche war ein IM gewesen. In einer weiteren kleinen Rolle verkörpert Kier, in "100 Jahre Adolf Hitler" schon als Führer und Morphiumleiche durch den Bunker gewandelt, mit bleich geschminktem Gesicht und Hakenkreuz auf der Oberlippe auch in diesem zweiten Film der Deutschlandtrilogie wieder den Nazi oder vielmehr: den nationalsozialistischen Geist, der Deutschland weiterhin heimsucht. Bezeichnenderweise trägt Vater, das skelettierte Alphatier der Familie, noch seinen Wehrmachtshelm und erinnert an den dunklen, nicht zu entnazifizierenden Zweig im deutschen Stammbaum.
Alfred Edel leiht dem imaginären Oberhaupt in der Hitchcock-Hommage die Stimme und vollführt als Metzgervariante von Norman Bates ("Vater schläft") eine Galavorstellung des abgründigen Humors. Als einziger Überlebender der Sippe flüchtet sein Alfred am Ende aus lauter Angst vor der Ostbevölkerung. "Ich muss mich der Nachwelt erhalten". Der westdeutsche Genpool muss sauber bleiben. "Deutschland, einig Vaterland", schreien hingegen die Ossis. Peace. "Victory". Wie naiv die sind. Die deutsche Wiedervereinigung, das ist bei Schlingensief eine somatische Prozedur, ein Auffressen und Ausbluten und infolge dieses kannibalistischen Aktes eine gleichzeitige Neugeburt, eine Arschgeburt und der Beginn einer neuen Zerstückelung. Das ist das Resultat des Kettensägens, das hier sinnbildlich über allem steht.
Ende 1990 war Schlingensiefs Werk ein gewagter politischer Kommentar, heute, knapp sechzehn Jahre danach, ist "Das Deutsche Kettensägenmassaker" ein visionärer Film, aus dem die Wahrheit quillt. "Das ist ja weniger als Wurst, das ist ja nicht mal Grütze", resümierte Schlingensief später in "Christoph Schlingensief und seine Filme" im Hinblick auf die missglückte Assimilation des einstigen DDR-Territoriums. Keine blühenden Felder. Die mehr als vierzig Jahre lange Trennung hinterließ Spuren, die sich doch nicht so einfach wegwischen ließen. Zwei deutsche Nationen in zwei bipolaren ideologischen Systemen entfremdeten sich sowohl ökonomisch als auch kulturell. Nur langsam wächst zusammen, was zusammen gehört. Noch gibt es den Deutschen nur international, im eigenen Lande nennt er sich weiterhin Ossi oder Wessi, klassifiziert seine Bundesländer in neue und alte und wundert sich allzu selten darüber, wie etwas nach sechzehnjährigem Bestehen immer noch neu sein kann?