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Jean Rays Roman "Malpertuis" (1943) ist sicherlich einer der populärsten Romane der phantastischen Literatur der Mitte des 20. Jahrhunderts und Ray selbst ist wohl ihr bekanntester Vertreter aus Belgien. Sein Landsmann Kümel, der sich auch mit den Filmen "Les Lèvres rouges" (1971) - hierzulande wohl auch der am einfachsten zu erwerbende Film von Kümel - und "De Komst van Joachim Stiller" (1976) in die Geschichte des phantastischen Films eingeschrieben hat, nahm sich Rays Roman keine 30 Jahre nach seinem Erscheinen an.

Die Komplexität von Rays Vorlage ließ Kümel dabei unberücksichtigt und baut die Grundhandlung des Romans in einen neuen Rahmen ein... das ist sowohl verständlich (eine 1:1-Übertragung wäre bei der Dramaturgie der Vorlage schwierig und umständlich geraten!), als auch äußerst gut gelungen: die Neuerungen verschmelzen mit den beibehaltenen Elementen zu einer stimmigen Einheit.

Rays Roman lässt einen Dieb als Erzähler auftreten, der aus einem Kloster geraubte Manuskripte zu einer logisch nachvollziehbaren Geschichte ordnet, die er dem Leser präsentiert. Diese Manuskripte stammen aus verschiedenen Zeiten & von verschiedenen Figuren - einem Abbe, seinem gottlosen Vorfahren, einem Jüngling namens Jean Jacques Grandsire und einem Abt - und ergeben in ihrer Mischung die Geschichte des Hauses Malpertuis.
Der Bericht Grandsires nimmt dabei am meisten Raum ein (und ihm folgt im wesentlichen Kümels Film): er beginnt [Achtung: Spoiler!] mit dem Sterben des alten Cassaves, der in seinem Testament festlegt, dass die ihm nahestehenden Personen nach seinem Tod ihr Leben nur in dem Anwesen Malpertuis verbringen dürfen, um dafür als Erben reichlich entlohnt zu werden. Wer sich fortbegibt, ist damit enterbt; wer als letzter noch in Malpertuis am Leben ist, kann frei über den Gesamtbesitz verfügen. Mit engen und fernen Verwandten und mit Bediensteten haust Grandsire in dem gigantischen Anwesen, in dem es schnell zu Spannungen unter den Bewohnern kommt: und bald auch zu rätselhaften Begebenheiten und gar zu Todesfällen.
Hier greift Ray ein typisches Haunted House-Motiv auf und zunächst könnte man eine unheimlich aufgeladene Erbschleicher-Kriminalerzählung vermuten. Doch immer stärker weisen die Ereignisse seltsame Parallelen zur griechischen Götterwelt auf, immer stärker häufen sich entsprechende Andeutungen, die vom Erzähler der rahmenden Handlung ebenso aufgedeckt werden wie schon vom Abt: Cassave ist ein uralter Rosenkreuzer gewesen, der eine Gruppe von Leuten auf eine griechische Insel schickte, auf der die sterbenden Götter Griechenlands dahinlebten bzw. -starben. Denn nicht die Götter haben die Menschen erschaffen, sondern die Menschen die Götter, welche nun - in Vergessenheit geraten - an Macht verlieren. Diese Götter hat Cassave in seinem Hause Malpertuis unterbringen lassen, wo sie nun - ausgestattet mit menschlicher Verkleidung - machtlos verweilen müssen und in ihrer Identität zwischen der Erinnerung an einstige Göttlichkeit und ihrer aktuellen Menschlichkeit hin und her schwanken. Unter ihnen sind Zeus, Hephaistos, Apollon, die Eumeniden, Prometheus und die letzte der Gorgonen. Grauenhafte Intrigen treiben Grandsire schließlich von Malpertuis fort; halb verrückt geworden findet er in einem Kloster Zuflucht, an dessen Abt sich bald auch der verkleidete Zeus wendet, um Grandsire zu retten - denn Euryale, die letzte der Gorgonen, und Alice bzw. Alecto von den Eumeniden lieben ihn gleichermaßen und streiten daher um ihn. Kaum hat Zeus dem Abt berichtet, als es in ihrer und Grandsires Anwesenheit zum Streit zwischen Euryale und den Eumeniden kommt, den Grandsire aufgrund seines Blickes auf Euryale nur versteinert übersteht; Zeus gesteht dem Abt, dass er nichts habe verhindern können, dass alles schicksalhaft vorherbestimmt war. Der Abt verfällt dem Wahnsinn und den Erzähler packt zumindest in einem kurzen Nachtrag das Grausen, als er einige Zeit später einigen Figuren begegnet, bei denen es sich um diese Göttergestalten handeln könnte.

Das ganze Vor- und Zurückgreifen und die umfangreiche Zeitspanne des Geschehens lässt Kümel beiseite und konzentriert sich - in einem zeitlich wie räumlich sehr eng gehaltenem Bereich - ganz auf die Figur Grandsires. Auch bei Kümel wird deutlich, dass etliche der Bewohner/innen von Cassavius (so heißt die Figur im Film und wird von Orson Welles - der hier ein wenig seine Rolle aus seinem eigenen "Le Procès" (1962) wiederholt - genial verkörpert) gefangene Götter sind; wie es im Detail dazu kam, verschweigt der Film - im direkten Vergleich mit der Vorlage - ebenso, wie er auch das gesamte Ende ab Grandsires Flucht gegen ein neues ersetzt. (Dennoch bleibt der Film in weiten Teilen Rays Vorlage überaus treu).
Kümels neues Ende steht dem Geist der Vorlage aber recht nahe. Rays Roman verweist in vielerlei Hinsicht auf das Labyrinthische und Uneindeutige von Zusammenhängen im allgemeinen: Das beginnt bei dem Erzähler, der beteuert, dass er Unmengen an Manuskripten zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen musste. Auch die jedem Kapitel vorangestellten Literaturzitate (zweimal sogar ohne Kennzeichnung verfälscht) stellen weiter ausufernde Zusammenhänge her, die im Fall der verfälschten Zitate auch nur schwerlich zurückzuverfolgen sind (was ein wenig an die Technik von J. L. Borges erinnert). Das spiegelt sich auch wieder im unwahrscheinlich großen Anwesen, welches Grandsire bisweilen neugierig durchstöbert, und tritt ebenfalls in den lange Zeit rätselhaften Anspielungen auf die griechische Mythologie zutage. Alles ist voll rätselhafter Zusammenhänge, die teilweise nicht zu entschlüsseln sind: So bleiben im Roman auch viele Fragen offen - sogar die Frage, ob alles wirklich stattgefunden hat, oder ob der Erzähler bloß die Einbildungen von letztlich wahnsinnig gewordenen Personen übernommen hat, kann trotz seines kurzen Nachtrages nicht hundertprozentig geklärt werden. Und zur Fülle unklarer Zusammenhänge gesellt sich die These, dass nicht die Götter den Menschen, sondern der Mensch die Götter macht: dass also der Geist die Welt erzeugt - und nicht die Welt den Geist.

Dieser Tradition bleibt Kümel treu - und in der Gestaltung des Hauses Malpertuis überflügelt er die Vorlage geradezu: sein unüberschaubar großes Malpertuis ist durchzogen von scheinbar unendlich tiefen Treppenhäusern unterschiedlichster Art; und diverse (erstaunlich lange) Korridore zeigen immer wieder den hindurchirrenden Protagonisten, der den gesamten Film über fast häufiger neue Gänge erkundet, als dass er in bereits bekannten Räumlichkeiten zu sehen ist. Hier verliert sich der Protagonist wie der Zuschauer in einer irritierend undurchschaubaren Kulisse, die dank Spiegeltricks und gemalter Sets im Hintergrund umso mysteriöser wirkt. Ein Anwesen, so monströs wie das Xanadu in "Citizen Kane" (1941) und so verwinkelt wie das Schloss in "L'année dernière à Marienbad" (1961). In den lange Zeit rätselhaften Anspielungen auf griechische Mythologie nehmen sich Vorlage und Verfilmung nicht viel - der Film wirkt in dieser Beziehung womöglich etwas zurückhaltender, indem er zum Ende hin zwar viel, aber im Vergleich mit der Vorlage dennoch etwas weniger verbal erklärt (neugierige Zuschauer dürfen also - sofern nicht schon vor der Betrachtung geschehen - getrost zu Rays Roman greifen und werden den einen oder anderen neuen Blickwinkel gewinnen; zum Verständnis des Films ist dies aber nicht unbedingt notwendig).
Die Fülle an Literaturhinweisen findet man hier freilich nicht, allerdings leitet Kümel seinen Film mit einem Hinweis auf Lewis Carrolls "Through the Looking-Glass, and What Alice Found There" (1871) ein, indem er Carroll zitiert und mit Tenniels populärer Zeichnung des Jabberwocks unterlegt (die von schwarz auf weiß zu weiß auf schwarz übergeht), bevor die eigentlichen Credits ablaufen. Hier liefert Kümel mit dem Verweis auf einen Klassiker, in dem es um eine Alternativ-Welt gilt und der halb sinnig, halb unsinnig die Vernunft in Frage stellt, einen Schlüssel zu seinem Film (und zu Rays Roman).
Mit diesem Hinweis nimmt Kümel bereits das Ende des Films vorweg: hier erwacht Grandsire (bzw. Jan de Kremer, wie er hier in Anlehnung an Jean Rays wahren Namen Raymondus Joannes Maria de Kremer heißt) nach einer Attacke der alten Götter in der Venus-Bar, in welcher er auf seiner Anreise verweilte und in deren Umgebung er nun auf Doppelgänger der Figuren aus Malpertuis trifft. Ein leichtes Mädchen, bei dem er die Nacht verbracht haben soll, teilt ihm mit, dass er unmöglich an einem Ort namens Malpertuis gewesen sein kann: er wäre die ganze Zeit bei ihr gewesen. Jan jagt auf offener Straße den aus Malpertuis bekannten Gesichtern nach und landet nach Betreten eines Lampengeschäfts (!) wieder in Malpertuis, wo er die Folterung des Prometheus miterlebt und von Euryale vor einer lebensgefährlichen Attacke bewahrt wird.
Als sie ihn anzublicken scheint, weicht Kümel völlig von der Vorlage ab: in irrsinnigem Tempo schneidet er Bilder der Gegenwart von 1971 durcheinander und im Anschluss sitzt Jan in einem hochmodernen Krankenhaus, wo ein Doktor seine Heilung erreicht haben will und seine Frau Charlotte bereits auf ihn wartet. Charlotte wird von Susan Hampshire gespielt, die ebenso Euryale und Alecto gespielt hat, sowie eine Krankenschwester und Jans Schwester Nancy auf Malpertuis. Doch schon an der nächsten Türschwelle ist Jan wieder in Malpertuis gelandet: Charlotte schlägt die Tür auf der anderen Seite zu, er selbst wendet sich um, findet bloß einen zugemauerten Durchgang wieder und scheint letztlich auf sich selbst zu treffen. Mit "Life, what is it but a dream? (Lewis Carroll)" schließt sich der Kreis.

Bei Kümel gerät die labyrinthische Struktur des Stoffes (die Irrgärten aus Korridoren, die gespaltenen Identitäten!) samt des Mottos über die Macht des Geistes zu einem Bild des Geistes, der sich in sich selbst verloren hat. Das verwobene Haus Malpertuis ist ein Bild des Gehirns, in welchem sich Erinnerungen und/oder Vorstellungen zu einem unauflösbaren Rätsel verwunden haben, das den Blick auf die Realität bis zum Extrem verstellt. Anders als Ray, der seinen halbverrückten Grandsire - der immerhin die Hälfte der Handlung berichtet - zugunsten anderer Erzähler fallen lässt, bleibt Kümel in der verwirrten Innenansicht und klärt nichts mehr auf... es kann sogar angezweifelt werden, ob nun die Krankenhaus-Ebene eine realere als die übrigen darstellt oder nicht. Antworten gibt es keine, der Film endet stattdessen mit einer Carrollschen Frage... einer rhetorischen Frage, nach der das Leben (und damit das Erleben) ohnehin nichts weiter ist als ein Traum. (Vor dem Hintergrund des Figurennamens de Kremer, der aus dem Protagonisten ein Alter Ego des Autors Ray macht, lässt sich der Film mit seinem von der Vorlage entfernten Ende auch etwas spezieller als Kommentar auf das Leben des Künstlers in der Phantasie lesen; und somit verschiebt sich das "Nicht die Götter schaffen den Menschen, sondern der Mensch schafft die Götter" der Vorlage in Kümels Verfilmung in eine umfassendere Darstellung menschlichen Schöpfertums: denn Kraft des Geistes (der Phantasie, des Wahns oder bloß der Perspektive) erschafft der Mensch nicht bloß Götter, sondern auch seine ganz eigene Umwelt, die mit der tatsächlichen nicht mehr viel gemeinsam haben muss. Was man im kleinen Maßstab sicherlich aus der Alltagswahrnehmung kennt (wie trübselig ist doch ein Regentag nach niederschmetternden Nachrichten und wie angenehm ist er doch im höchsten Glücksgefühl!), treibt Kümel hier doppelt auf die Spitze mit der Geschichte von den Göttern, deren Existenz vom Glauben abhängt - eine Geschichte, die vom Protagonisten selbst womöglich nur ersponnen ist, ihm aber als Realität zu erscheinen vermag, was (so die Logik des Films) auch völlig berechtigt ist. Überhaupt reichert Kümel den Film mit einigen - über den Roman hinausgehenden - anregenden Verweisen an: so wird etwa eine blauäugige, blondhaarige Meisterrasse thematisiert, womit Kümel die Deutung des Romans vor dem Hintergrund seiner Entstehungszeit kommentiert (etwa durch Hubert Lampo); die fünf Rollen der weiblichen Hauptdarstellerin bieten hingegen Raum genug, hier ein inzestuöses Begehren thematisiert zu sehen...)

Kümels Film ist nicht nur mit erstaunlich pompösen Sets und liebevollen Kostümen perfekt ausgestattet (was die eleganten Kamerafahrten von Gerry Fisher - der später auch in "Wolfen" (1981) vergleichbares geleistet hat - teilweise noch besonders zu betonen wissen) und zudem mit äußerst wirksamer Musik von Georges Delerue unterlegt, sondern auch ein Film, der dank zunehmend rätselhafter werdender Handlung, dank eines immer offensichtlicher werdenden Realitätsverlustes gegen Ende und dank sparsam eingesetzter Schockmomente auch eine immer düsterer werdende Stimmung heraufbeschwört (zu der sich am Ende dann aber wieder ein Gefühl der Befreiung gesellt). Einige Szenen dürften sicherlich zum Unheimlichsten gehören, was in dieser Zeit so in den Kinos zu sehen war - etwa die Attacke der Götter, von denen Hephaistos dem Abbe sein Kreuz in Flammen setzt.

"Malpertuis: Histoire d'une maison maudite" ist eine formal beeindruckende, intelligente Literaturverfilmung, die durchgängig eine beunruhigende Atmosphäre aufbaut und - das sollte man nicht vergessen! - eine kleine Paraderolle für Orson Welles bietet.
9/10

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