Stadtteile verändern sich. Das war schon immer so, wird vermutlich immer so sein und ist erst einmal nichts Schlechtes. Umso wichtiger ist es aber – gerade im Falle kulturell besonders interessanter oder wertvoller Viertel –, dass der jeweilige Ist-Zustand dokumentiert, festgehalten wird in Wort und Bild, damit Veränderung und Entwicklung nicht nur nachvollziehbar bleiben für spätere Generationen, sondern auch, zu einer Art Überblick zusammengefasst, der aktuellen Generation möglicherweise erst bewusst gemacht werden und somit als Diskussionsgrundlage, als kritische Momentaufnahme mit der Chance zum positiven Eingreifen, genutzt werden können. Betrachtet man zu diesen Zwecken insbesondere die Menschen eines Stadtteils und bietet ihnen ein Sprachrohr, verschafft man ihnen Gehör und ist besonders nah dran an der Wirklichkeit – oder auch den unterschiedlichen Wirklichkeiten, wie sie sich subjektiv unterschiedlich darstellen.
Eben dies haben die alles andere als kiezfremden, unabhängigen Filmemacher Julian Schöneich und Johannes Neinens gemacht, indem sie für ihr No-Budget-Projekt „St. Pauli Zoo“ 2014 mehr als 60 Stunden Material drehten und mithilfe einer sehr zufriedenstellend verlaufenen Crowdfunding-Kampagne genügend Geld zusammenbekamen, um im Frühjahr 2015 einen überaus sehenswerten, auf Spielfilmlänge gestutzten Dokumentarfilm präsentieren zu können, der kein per se politischer Film geworden ist, aber natürlich seit geraumer Zeit untrennbar mit St. Pauli verbundene Themen wie die grassierende Gentrifizierung des Stadtteils und damit einhergehende Vertreibung „sozial (meint: finanziell) schwacher“ Bewohner, aber auch das Schicksal der Lampedusa-Flüchtlinge aufgreift. Durch die Wahl der Themen, der Gesprächspartner und der gestellten Fragen gibt man dem Film natürlich eine, nämlich die gewünschte Richtung. Dass Schöneich und Neinens selbst gesteigertes Interesse am Erhalten des typischen, urigen St.-Pauli-Charmes haben, ist kein Geheimnis und darf vorausgesetzt werden.
Ausgehend von Aussagen des Kiez-Originals Wolle, der mit seinem Bauchladen Backwaren im Rotlicht-Milieu veräußert, unternimmt „St. Pauli Zoo“ einen Streifzug durch die Straßen und Gassen des Hamburger Amüsierviertels, lässt unkommentiert und damit unverfälscht Kiezgröße Thomas Born, einen Koberer, den Rapper Nate57, die Jungs von „St .Pauli Pizza“ sowie die Dame vom „Kiez Curry“, den leider jüngst verstorbenen Dr. Gereon Boos von „Harrys Hafen-Basar“ (R.I.P.!), Punk Kai von der „Menschenzoo St. Pauli“-Siebdruckerei und der Band „Disillusioned Motherfuckers“, Dominik von der alteingesessenen und vor wenigen Jahren nach Ableben der Betreiberin spektakulär geretteten Kultkneipe „Silbersack“ sowie weitere Anwohner und Gewerbetreibende zu Wort kommen – ebenso wie Lampedusa-Flüchtlinge, den seinerzeit helfend eingesprungenen Pastor der lokalen Kirche und uneigennützig agierende Unterstützer(innen) sowie Ex-FC-St.-Pauli-Präsident Stefan Orth (ohne dass der Verein übermäßig viel Beachtung finden würde – dafür gibt es sicherlich andere Dokumentarfilme).
Damit dokumentieren Schöneich und Neinens den von vielen als ganz selbstverständlich empfundenen Stil- und Kulturmix St. Paulis, der eben häufig einhergeht mit einem starken Verbundenheitsgefühl für den Stadtteil mit seiner außergewöhnlichen Geschichte, der so viel mehr zu bieten hat als käuflichen Sex, Absturzkneipen und Touristenattraktionen, aber ebenso mit einem wachen, politkritischen Geist, der skeptisch die aktuelle Entwicklung beäugt und weiterhin bemüht ist, gesellschaftlichen Außenseitern und Ausgestoßenen sowie Hilfebedürftigen einen Ort zum Leben zu bieten. In diesem Zusammenhang fallen natürlich viele kritische Worte zur „Ballermannisierung“ St. Paulis, der um sich greifenden Gewalt und der „Aufwertung“ des Stadtteils (insbesondere während des ausgewogenen Einblicks in die unrühmliche Affäre um die Esso-Häuser), zum Umgang mit Flüchtlingen einer- und dem Gefühl, Touristen sprichwörtlich wie eine Art Zoo-Attraktion präsentiert zu werden, andererseits. Dies wird gepaart mit bemerkenswerten und sympathischen bis lustigen Anekdoten von sich vollkommen ungekünstelt zeigenden Menschen, die Einblicke in ihr täglich Brot, ihr von ihnen als ganz normal empfundenes Leben auf St. Pauli gewähren – bis hin zu faszinierenden Mammutprojekten wie den Umzug des Hafen-Basars in die Hafencity, wodurch St. Pauli um eine Attraktion ärmer wurde. Ex-Zuhälter Thomas Born brachte es vielleicht überraschend auf den Punkt, als er die Weltoffenheit, die sich Hamburg als „das Tor zur Welt“ selbst so gern anheftet, in erster Linie St. Pauli attestiert, denn fürwahr sieht es in anderen Stadtteilen der Metropole diesbzgl. ganz anders aus. In diesem Zusammenhang scheinen gar seine USA-Vergleiche Sinn zu ergeben.
Natürlich kann man einem Stadtteil wie St. Pauli in rund eineinhalb Stunden eigentlich nicht gerecht werden, dessen waren sich zweifelsohne auch die Filmemacher bewusst und ich möchte nicht in ihrer Haut gesteckt haben, als es zum schwierigen Prozess des Aussortierens ging – von Interviewpassagen, von Gesprächspartnern, ja, bestimmt auch ganzer Themen. Dennoch hätte mich interessiert, ob die vielbeschworene Toleranz, die auch in diesem Film geäußert wird, im multi- und subkulturellen St. Pauli nicht manchmal auch schlicht eine Scheißegal-Haltung gegenüber den Mitmenschen, den unmittelbaren Nachbarn etc. ist – denn sicherlich ist manch St. Paulianer auch besonders gut darin, sich selbstgefällig auf die Schulter zu klopfen und in seiner Ausnahmestellung zu suhlen, ohne sich tatsächlich allzu sehr vom Rest der Gesellschaft zu unterscheiden. Quasi völlig ausgeklammert wird das untrennbar mit St. Pauli verbundene Phänomen der Zuhälterei und Prostitution, auf die ein kritischer Blick gewiss auch interessant gewesen wäre – insbesondere auf ihre Rolle in kultureller, monetärer und politischer Hinsicht für den Stadtteil. Ein nettes Detail wäre darüber hinaus eine komplette Synchronisation der Aussagen der Lampedusa-Flüchtlinge gewesen.
Meine Kritikpunkte wollte ich zwar anbringen, möchte sie aber konstruktiv verstanden und keinesfalls überbewertet wissen. „St. Pauli Zoo“ ist ein wertvolles Zeitdokument, das es auf angenehm unprätentiöse und unterhaltsame, schwellenfreie Weise auch mit den Gegebenheiten vor Ort nicht vertrauten Zuschauern ermöglicht, ein Gespür für den Stadtteil und seine Bewohner zu entwickeln, zu sensibilisieren für den mal hoffnungsvoll, mal sehr differenziert, aber auch resigniert geäußerten Wunsch nach einem allgemein verträglichen Mittelweg zwischen dem etwas anderen Stadtteil mit eigener Identität und Möglichkeiten, die eigene Exaltiertheit auszuleben und auch mal ordentlich auf die Kacke zu hauen auf der einen und dem Abstieg zum öffentlichen Klo für volltrunkene Touristen, die dort ganzjährig ihre städtisch geförderten Proll-Partys à la „Schlager-Move“ feiern , auf der anderen Seite – ganz zu schweigen von der das besondere Flair St. Paulis geradezu niederwalzenden Gentrifikation. Gerade zum geänderten Feierverhalten hat „Silbersack“-Dominik nachdenklich stimmende Worte gefunden, die mir wie so vieles andere auch nachhaltig im Gedächtnis geblieben sind. Wer nun neugierig ist, was es alles in „St. Pauli Zoo“ zu entdecken gibt, sollte sich dieses überaus gelungene Porträt der „Zoobewohner“ unbedingt selbst einmal anschauen, sich amüsieren, zum Nachdenken anregen, überraschen und vielleicht auch erschrecken und ärgern lassen von diesem ambitionierten Projekt junger Filmemacher, das richtig gut geworden ist und manch einen den nächsten St.-Pauli-Besuch mit anderen Augen erleben lassen dürfte.