Mit "Blade II" (2002) wurde das Schaffen del Toros nach "Cronos" (1993), "Mimic" (1997) – seinem ersten und wenig überzeugenden Ausflug nach Hollywood – und "El Espinazo del Diablo" (2001) lauter, bombastischer und effektreicher, wenngleich die Effekte hier doch noch etwas unausgegoren wirkten: Zwar konnte del Toro diesen Film und die folgenden Großproduktionen "Hellboy" (2004), "Hellboy II: The Golden Army" (2008) und "Pacific Rim" (2013) durchaus noch mit seinen ganz persönlichen und auf keinerlei Massengeschmack Rücksicht nehmenden Vorlieben durchsetzen und Verweise auf Boris Karloff, H. P. Lovecraft oder F. W. Murnau einpflanzen, aber ein unübersehbarer Schwerpunkt dieser Comic- und TV-Serien-inspirierten Werke lag deutlich bei lärmenden, vordergründigen Blockbuster-Qualitäten. "El Laberinto del Fauno" (2006) – wieder eine spanischsprachige Produktion! – stellte zwischendurch eine Rückkehr zu den stilleren, eigenwilligeren Beiträgen zum phantastischen Film dar und trat in die Fußstapfen des ganz & gar nicht massentauglichen Victor Erice ("El Espíritu de la colmena" (1973)), scheiterte aber inmitten großzügig zelebrierten Fantasy-Kitsches letztlich daran, an Erices Klassiker – oder andere Franco-Parabeln jener Jahre – anzuknüpfen.
"Crimson Peak" ist nun [Achtung: Spoiler!] nach knapp zehn Jahren erneut ein ruhiger, leiser Ausflug in den phantastischen Film, der auf actionreiche Blockbuster-Qualitäten zugunsten altmodischen Schauders verzichtet – und es ist vielleicht sein rundester, stimmigster (und stimmungsvollster) Film, der ziemlich geruhsam in opulenter Ausstattung seine altertümliche Gespenstergeschichte erzählt.
Edith Cushing – vermutlich eine Verbeugung vor Peter Cushing, dem großen gothic horror-Veteranen der Hammer Studios, vielleicht auch noch vor Edith Nesbit oder (was wahrscheinlicher ist) vor Edith Wharton! – versucht sich um 1900 als Schriftstellerin; doch ihre Geistergeschichte kommt bei einem ins Auge gefassten Verleger nicht sonderlich gut an – es fehle die Liebesgeschichte. Edith mutmaßt darin eine vorurteilsbelastete Reaktion auf ihr Geschlecht: scheinbar erwartet man von einer Frau auch eine Liebesgeschichte. Dabei hat sie mit Liebesgeschichten keinerlei praktische Erfahrungen sammeln können, ihre nun erzwungenen Beschreibungen der Liebe & des Liebesleids beruhen auf den Erzählungen & Romanen anderer, nicht auf ihrem eigenen Leben – das wird ihr auch ein vermeintlicher Verehrer unter Zwang vorwerfen, um sie böse zu treffen. Von den Geistern hingegen, welche sie ihren Probelesern etwas verlegen als Metaphern für die Vergangenheit schmackhaft zu machen gedenkt, weiß sie hingegen alles: Der Geist der vorzeitig verschiedenen Mutter hat sie schon im Kindesalter in finsterer Nacht heimgesucht, um sie vor Crimson Peak zu warnen.
Nicht nur mit Verlegern, auch mit den Damen der feinen Gesellschaft hat die junge Schriftstellerin zu kämpfen, verspötteln diese die belesene Büchernärrin doch als eine neue Jane Austen, die wie diese als alte Jungfer sterben werde. Doch Edith strebt nicht danach, eine neue Austen zu werden – die als literarisch enorm gebildete Frau ihre eigenen Werke meist anonym unter dem Hinweis 'by a lady' veröffentlichte und aus deren Feder neben den allseits bekannten Klassikern auch die gothic novel-Parodie "Northanger Abbey" (1798-1802, 1817) stammte, in welcher die Hauptfigur eindeutig mehr gothic novels gelesen hat, als es ihrem zarten, naiven Gemüt zuträglich ist –, sondern vielmehr eine neue Mary W. Shelley (welche immerhin als Witwe und nicht als Jungfer gestorben ist – und welche die gothic novel eindeutig ernster nahm): Neben dem expliziten Verweis auf Shelleys Eheleben und neben dem Umstand, dass Shelley (nicht ausschließlich, aber vor allem) mit "Frankenstein or The Modern Prometheus" (1818) viel stärker für die phantastische Literatur einsteht als Austen mit ihrem ironisch-satirischen Blick, ist auch der weniger bekannte Umstand von Interesse, dass Mary W. Shelley unter dem Einfluss ihrer feministisch ausgerichteten Mutter Mary Wollstonecraft – die mit "A Vindication of the Rights of Woman" (1792) oder "Maria: or, The Wrongs of Woman" (1798) wichtige Standard-Texte in der (Vor-)Geschichte des Feminismus verfasst hatte – zu einer recht emanzipierten Frau herangewachsen ist, welche die feministische Orientierung ihrer Mutter unter anderem mit der Figur Euthanasia in "Valperga: or, the Life and Adventures of Castruccio, Prince of Lucca" (1823) aufleben lässt, aber auch bereits über vereinzelte Elemente in "Frankenstein or The Modern Prometheus" aufgreift. Auch in dieser leicht feministischen, relativ emanzipierten Haltung entspricht Edith der großen Autorin, mit der sie noch das Schicksal der frühzeitig verlorenen Mutter teilt – Mary W. Shelleys Mutter wurde keine zwei Wochen nach der Entbindung vom Kindbettfieber hinweggerafft. (Und dass Shelley in "Frankenstein or The Modern Prometheus" ganz latent mit der weitestgehend verschleierten Inzest-Thematik spielt, erweist sich am Schluss von "Crimson Peak" als weiterer Wink mit dem Zaunpfahl – oder eher einem Zaunpfahl-Splitter...)
Edith Cushing scheint zwar mit den Werken von Jane Austen, Mary W. Shelley oder Ann Radcliffe aufgewachsen zu sein, fällt aber selbst als Schriftstellerin in die Ära der victorian gothic, die mit den Brontë-Geschwistern – d. h. in erster Linie mit Emily Brontë (1818-1848) und ihrem "Wuthering Heights" (1847)! – und mit Miss Catherine Crowe (1800~1876),[1] Mrs. Gaskell (1810-1865), Mrs. Henry Wood (d.i. Ellen Wood, 1814-1887), Mary Ann Evans (1819-1880), Mrs. Craik (1826-1887), Mrs. Oliphant (1828-1897), Miss Amelia Edwards (1831-1892), Mrs. Riddell (1832-1906), Mary E. Braddon (1835~1915),[2] Mrs. Molesworth (1839-1921), Rhoda Broughton (1840-1920), Mrs. Alfred Baldwin (d.i. Louisa Baldwin, 1845-1925), Bithia Mary Croker (1848~1920),[3] Mrs. Henrietta D. Everett (1851-1923), Mary Wilkins Freeman (1852-1930), Mary E. Penn (18**-19**), Mrs. L. T. Meade (1854~1914),[4] Vernon Lee (d.i. Violet Paget, 1856-1935), Gertrude Atherton (1857-1948), Edith Nesbit (1858-1924), Charlotte Perkins Gilman (1860-1935), Edith Wharton (1862-1937), Mary Sinclair (1863-1949), Lettice Galbrait (18**-19**) oder Miss Gertrude Bacon (1874~1949)[5] Phantastik-interessierte Schriftstellerinnen zuhauf bietet (die nicht selten auch als äußerst emanzipiert galten – Gertrude Atherton oder Charlotte Perkins Gilman beispielsweise)[6]: Michael Cox & R. A. Gilbert schreiben den Autorinnen in ihrer Sammlung "Victorian Ghost Stories: An Oxford Anthology" (1992) sogar eine Schlüsselrolle zu und im Vorwort seiner Anthologie "Roald Dahl's Book of Ghost Stories" (1983) fragte sich Dahl sogar, "ob die wirklich gute Gespenstergeschichte vielleicht eine ausschließlich weibliche Domäne sei."[7] Sie ist daher zwar Außenseiterin, aber kein Einzelfall, diese emanzipierte, eigensinnige, belesene und Phantastik-interessierte Edith Cushing – was "Crimson Peak" trotz all seiner übernatürlichen Elemente zugleich auch zu einem sensibelen Porträtfilm eines ganzen Frauentypus werden lässt, der mit Vorurteilen & Abneigungen seiner Zeitgenoss(inn)en zu kämpfen hat.
Und zugleich ist "Crimson Peak" eine Hommage an eine besondere Spielart des gothic horrors: denn in den 1970er Jahren, in denen der Feminismus und die gender studies sich durchzusetzen begannen, prägte Ellen Moers den Begriff der female gothic, der sich den Schriftstellerinnen und ihren weiblichen, unschuldigen Heldinnen widmete – und dabei hauptsächlich die gothic novel, insbesondere die school of terror anvisierte, der aber später von Ann Radcliffe bis hin zu den Geistergeschichten der victorian gothic ein etwas breiteres Feld abdeckt. "Crimson Peak" entwirft eine female gothic-orientierte Handlung, die zwischen den unheimlich-bedrohlichen school of terror-Elementen à la Radcliffe und den übernatürlich-unerklärlichen school of horror-Elementen à la Matthew Gregory Lewis pendelt und dabei auf Ambiente und selbstbewusste, symbolische Ansätze der victorian gothic zurückgreift: ja sogar auf moderne Neuinterpretationen wie etwa Daphne du Mauriers "Rebecca" (1938) und Hitchcocks gleichnamige Verfilmung (1940), auf die sich del Toro auch ausdrücklich beruft – was auch für Hitchcocks "Notorious" (1946) gilt, dessen suspense-Szene um einen entwendeten, vermissten und wieder zurückgebrachten Schlüssel del Toro hier in ihren Grundzügen wiederholt.
Die victorian gothic ist sicherlich jener Zeitraum, in welchem Motivik & Struktur der gothic novel, deren Blütezeit etwa zwischen Mitte der 1760er Jahre und Anfang der 1830er Jahre gelegen hat, aufgegriffen und gehörig variiert wurde: es waren nun aktuellere Settings, in die das Unheimliche eindrang, die Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart geriet intensiver & deutlicher, eine psychologische Glaubwürdigkeit drang in die Geschichten ein und auf geschickte Weise wurde symbolisch behandelt, was im viktorianischen Zeitalter als unschicklich galt – aus den kruden Vergewaltigungen & Lustmorden eines Matthew Gregory Lewis wurden etwa die vampirischen Bisse eines Bram Stoker, bei dem von Kerzen 'sperm' herabtropft und Vampirfrauen 'coquettishly' ihren Kopf schütteln, um sich dann mit 'deliberate voluptuousness which was both thrilling and repulsive' auf ihre Knie sinken zu lassen, bevor sie ihr Opfer beißen. Ein ausgesprochen saftiges, vulgäres Geschehen, das Stoker dort nahelegt und in den Deckmantel der Blutsaugerei hüllt.
Diese viktorianische Doppelmoral greift "Crimson Peak" recht deutlich auf, wenn die Antagonistin der Heldin eine verborgene, pornografische Illustration auf dem Buchschnitt eines dicken Wälzers zeigt, welche sich erst enthüllt, wenn man den Buchrücken gewaltsam ein bisschen verschiebt. (Eine Szene übrigens, die ein bisschen an das Beäugen einer erotischen Schilderung durch Mina und Lucy in "Bram Stoker's Dracula" (1992) erinnert – ein Film, mit dem "Crimson Peak" nicht bloß diesselbe Basis der victorian gothic besitzt, sondern dessen handgemachter, sorgfältiger Ausstattung del Toro in CGI-Zeiten stärker nacheifert, als man es zu hoffen gewagt hätte.)
Und dass Edgar Allan Poe, der in "The Fall of the House of Usher" (1839) sowohl den ersten gothic novel-Klassiker "The Castle of Otranto" (1764) als auch die deutsche Erzählung "Das Raubschloß" (1812) variiert, um eine makabere, horrible Inzest-Geschichte zu erzählen, die mit der Vernichtung des gesamten Hauses Usher endet – welches das Geschlecht der Ushers ebenso bezeichnet wie das Gebäude selbst –, sei auch erwähnt: Die durchaus explizit beim Namen genannte Geradlinigkeit des Stammbaums der Ushers wird im Verlauf der Geschichte weniger thematisiert werden, als der Wahnsinn und der symbolische Verfall des rissigen, alten Hauses. Diese Erzählung ist für "Crimson Peak" sicherlich von großer Bedeutung, zumal ihre Verfilmung durch Roger Corman ("House of Usher" (1960)) als Startschuss der AIP-Poe-Reihe den gothic horror des Kinos mit einer Farbpracht verband, der del Toro hier ziemlich deutlich huldigt, wenn blutrote Geister-Gerippe durch dunkelblaue Innenräume geistern und roter Ton durch weiße Schnee-Oberfläche quillt.
"Crimson Peak" also erzählt von Edith Cushing, die offenbar seit längerem erfolglos vom jungen Arzt Dr. Alan McMichael begehrt wird, dann aber auf Thomas Sharpe trifft, der als frisch angereister, erfolgloser Bittsteller bei ihrem Vater aufkreuzt – und dabei ihr Mitgefühl weckt, das der blasse, schmale, weiche Mann mit Tom Hiddlestons traurigem E. A. Poe-Augen(brauen)paar für sich einsetzen wird. Als Ediths Vater mit McMichael eine Festlichkeit besucht, für deren Vorzüge Edith nichts übrig zu haben glaubt, wird Sharpe die Frau aufsuchen, um gemeinsam mit ihr die Veranstaltung zu besuchen – vor seinem Eintreffen wird Edith erneut vom warnenden Geist der Mutter heimgesucht. Dennoch macht sie sich mit Sharpe, den sie – obwohl nomen omen ist! – nicht verdächtigt, auf und wird an seiner Seite von allen bewundert zur Walzerkönigin avancieren. Es beginnt eine Liebelei, sehr zum Missfallen von Cushing sen., welche böse enden muss: dass Thomas Sharpe mit seiner unterkühlten Schwester Lucille ein durchtriebenes Spiel plant, dessen Opfer Edith werden soll, macht der Film bereits sehr früh deutlich. Wie & warum bleibt zunächst noch offen. Cushing sen. lässt Sharpe beschatten und findet Unappetitliches über dessen Vergangenheit heraus: wenn Sharpe nicht möchte, dass Edith davon erfährt, so möge er schleunigst wieder abreisen und Edith das Herz brechen – dafür gibt es dann auch einen stattlichen Scheck.
Doch kurz darauf, nachdem Thomas Edith das Herz gebrochen hat und bevor er abgereist ist, wird Cushing sen. brutal ermordet: auf ziemlich graphische Weise übrigens, die einen Leichnam mit eingeschlagener Stirn zurücklässt. Nun kann Thomas Edith doch für sich gewinnen, sie ehelichen und mit sich (und seiner Schwester) nach Europa, nach Allerdale Hall im Norden Englands nehmen – sehr zum Unwillen von McMichael, der die Todesumstände von Ediths Vater skeptisch beäugt und einen Unfall ausschließt.
Und während Edith auf Allerdale Hall erkennen muss, dass dieses Anwesen von den Einheimischen wegen des enormen Ton-Vorkommens – welches die Sharpes zutage fördern, während zugleich das Haus unaufhörlich im wenig stabilen Grund zu versinken droht – auch Crimson Peak genannt wird und von allerlei unruhigen, warnenden Geistern heimgesucht wirkt, während Lucille ihr immer feindseliger, ja sogar eifersüchtiger begegnet und ihr der regelmäßig verabreichte Erholungstee immer stärker auf die Gesundheit schlägt, kommt McMichael in der Heimat düsteren Machenschaften auf die Spur: Der Schnüffler, der sich darauf spezialisiert hat, 'Unappetitliches zutage zu fördern' – wie es zumindest in der deutschen Synchro heißt! – hat Cushing sen. offenbar vor seinem Tod mitgeteilt, dass Thomas Sharpe bereits verheiratet war. Noch mehr Unappetitliches wird – vom blutig-roten Ton unter dem Anwesen einmal ganz abgesehen! – zutage gefördert: Die Geschwisterliebe zwischen den Sharpes überschreitet die Regeln der Etikette bei weitem, ihr Wälsungenblut treibt sie in inzestuöser Leidenschaft einander in die Arme. Nicht nur haben sie die eigene Mutter gemeuchelt, die hinter ihre Beziehung gekommen war, auch drei Bräute Thomas Sharpes mussten zwischenzeitlich das Zeitliche segnen: per Heiratsschwindelei ging es bloß darum, an das Geld der Frauen zu gelangen, um damit Thomas Sharpes Erfindung zu finanzieren, welche das Fördern des Tons ermöglichen und das Absinken des Hauses auf Dauer verhindern soll, um sozusagen das Haus Sharpe auch für die Zukunft aufrecht zu erhalten.
Im spannenden Finale muss sich Thomas dann zwischen seiner eiskalten Schwester und Edith Cushing entscheiden, müssen sich Edith und der angereiste McMichael gegen die grausame Intrige zur Wehr setzen.
Del Toro gelingt es – nicht zuletzt dank talentierter und geschickt gecasteter Schauspieler(innen) –, sein phantastisch-kriminalistisches Inzest-Drama trotz mancher Schwelgerei - die freilich dem gothic-Bezug geschuldet ist – auf recht anrührende Weise darzubieten: Selbst die gewissenlose, in jeder Hinsicht unmoralisch agierende Lucille Sharpe besitzt als Liebende – deren Liebe gesellschaftlich geächtet wird und deren Geliebter ihr schließlich unweigerlich entgleitet – tragische, bedauernswerte Größe, die ihr im Finale inmitten furioser, rachsüchtiger Raserei durchaus Mitgefühl zu sichern versteht. (Ein Finale übrigens, das mit seiner wahnsinnigen Hackebeil-Meuchelmörderin und dem Versteckspiel vor dem eingeschneiten Herrenhaus überdeutlich an Kubricks King-Verfilmung "The Shining" (1980) erinnert: Auch die Filmgeschichte grast del Toro konsequent ab, um sich neben Cormans "House of Usher", Claytons "The Innocents" (1961), Wises "The Haunting" (1963) und Kubricks "The Shining" als großer Geisterhaus-Klassiker in diese einzuschreiben. Selbst an den jüngeren "Livide" (2011) erinnert "Crimson Peak" zwischenzeitlich – vielleicht auch bloß, weil dem eigenwilligen Geisterhaus-Film Bustillos & Maurys, der wie "Crimson Peak" mit jeder Menge Faltern aufwartet, seinerzeit vielfach ein del Toro-Look zugesprochen worden war. Man sollte den Film aber keinesfalls als bloßen Geisterhaus-Film fehldeuten: er steht vor allem auch in der Tradition solcher gothic romances wie Hitchcocks "Rebecca" oder Mankiewicz's "Dragonwyck" (1945) - letztlich hängt der Spuk ja auch weniger vom Gebäude ab, sondern vielmehr von der sensiblen Fähigkeit der Hauptfigur.)
"Crimson Peak" behandelt eine düstere Vergangenheit, welche die Gegenwart einholt – in welcher es inmitten technischer Neuerungen keinen Platz mehr für Spukerscheinungen zu geben scheint. Er behandelt das finstere, kühle und (ganz besonders im Winter) abgeschnittene Allerdale Hall, in welchem sich die unschuldige Heldin wiederfindet. Er behandelt die Entwicklung einer unschuldigen Jungfrau, die ihre Unschuld verlieren wird und zur reifen Frau heranwächst, welche Liebe & Tod aus nächster Nähe in erschreckendsten Facetten kennengelernt hat und sich gegen die Bedrohungen tatkräftig behaupten konnte, nachdem sie längere Zeit unbarmherzig unterdrückt worden ist. Er zeigt hochsymbolisch den inzestuösen Untergang einer ganzen Familie anhand des Versinkens des Familienanwesens im blutroten Grund. Und nicht nur das macht "Crimson Peak" zu einem erstaunlich kenntnisreichen gothic-Revival, das von der klassischen gothic novel über die victorian gothic bis hin zu der einen oder anderen gothic-Hommage des 20. Jahrhunderts ein Leitmotiv der female gothic verfolgt: auch der andeutungsreichen, rational erklärbaren school of terror folgt der Film ebenso wie auch der etwas effekthascherischen, übernatürlichen school of horror. Zwar weist "Crimson Peak" darauf hin, dass Edith tatsächlich Geister sehen kann – und daher den Problelesern nie ganz die Wahrheit sagt, wenn sie die Geister ihrer Texte als bloße Metaphern für die Vergangenheit ausweist –, zugleich aber gibt sich "Crimson Peak" selbst als eine (selbstverständlich unzuverlässige) Erzählung von Edith Cushing aus, beginnt sogar mit der aufklappenden Vorderseite eines gleichnamigen Buches: Berücksichtigt man nun, dass Edith – nachdem Lucille ihren Roman in den Flammen eines Ofens verbrannt hat – mit "Crimson Peak" eigene Erlebnisse künstlerisch verarbeitet – und dabei nun auch über eigene Lebenserfahrung verfügt, die ihr zuvor abgesprochen worden war –, so muss man den Hinweis, dass sie selbst Geister zu sehen vermag, auch nicht mehr für bare Münze nehmen. Hinter "Crimson Peak" steht eine (freilich fiktive) Wahrheit, deren Umsetzung in reine Fiktion man zu sehen bekommt. Und dann können die Geister tatsächlich als Metapher gedeutet werden: als Metapher für Vergangenheit, wie Edith es mehrfach behauptet... als Metapher für das Blicken einer victorian gothic-Autorin auf die gothic novel, für die Trauer einer emanzipierten Tochter eines freundlichen, aber auch herrischen Vaters um die zu früh verstorbene Mutter, für die Spuren vergangener Geheimnisse, die sich im Verhalten der Menschen und ihren Wohnsituationen niedergeschlagen haben: je nach Ebene ist "Crimson Peak" entweder school of horror oder school of terror.
Formal bekommt man teilweise geboten, was man zu Genüge aus diversenen Genreproduktionen del Toros kennt – aus "El orfanato" (2007), "Los ojos de Julia" (2010), "Don't Be Afraid of the Dark" (2010) oder "Mama" (2013) zum Beispiel! –, aber die wirklich hervorragende Ausstattung auf (nicht bloß, aber vor allem) Allerdale Hall und der sorgsame Einsatz von Farbe in der Tradition des gothic horrors Cormans (oder auch Bavas) heben das formale Niveau im Vergleich zu solchen del Toro-Produktionen deutlich an. Auch die Besetzung ist positiv hervorzuheben: Mia Wasikowska – hier so hübsch wie kaum jemals zuvor! – gibt einmal mehr die Rolle des unschuldigen, zurückhaltenden jungen Mädchens, die sie auch in den Alice-Filmen ("Alice in Wonderland" (2010) & "Alice in Wonderland 2: Through the Looking Glass" (2016)) oder in Park Chan-wooks "Stoker" (2013) gegeben hat... (ein Film übrigens, der im Titel victorian gothic zu versprechen scheint und dann Hitchcock liefert... in "Crimson Peak" lässt sich nun beides entdecken.) Tom Hiddleston – der melancholische Vampir aus "Only Lovers Left Alive" (2013) – ist mit seinem zerbrechlichen Äußeren und den melancholischen Augenbrauen – obwohl zweite Wahl! – die optimale Besetzung für den von der geliebten Schwester zum Täter gemachten, tragischen und dem Untergang geweihten Schurken. Und Jessica Chastain, die seit fünf Jahren einen wundervollen Karriere-Höhenflug hinlegt, kann – nachdem Terrence Malick sie als personifizierte, weibliche Güte im "Tree of Life" (2011) eingesetzt hatte – einmal mehr aus dieser Rolle ausbrechen, wie bereits in "Zero Dark Thirty" (2012), "Salomé" (2013) oder "A Most Violent Year" (2014): Nachdem sie zunächst die personifizierte Güte und dann die um Härte bemühte Sanfte bzw. die Sanftheit erkennen lassende Harte gegeben hat, brilliert sie hier in einer wahrlich zutiefst hartherzigen Rolle – die ein wenig der märchenhaften, bösen Stiefmutter gleicht –, um dabei durchaus noch inmitten aller Verbitterung als verletzliche, tragische Figur zu erscheinen, der durchaus Mitgefühl entgegengebracht werden darf.
Alles in allem das schönste Geschenk seit langem für gothic-Fans: die eigene Genre-Geschichte blind beherrschend, formal weit über Durchschnittskost, wohlig unheimlich & effektvoll schockierend, tieftraurig & spannungsreich, leise & ruhig ablaufend, selbstbewusst altmodisch (in seiner Dramaturgie, formal hingegen sicher nicht frei von modischen Trends)... Kolportage, Vorhersehbarkeit – welche immerhin unheilvolle Beklemmung auszulösen vermag – und Sentimentalität gehören allerdings unweigerlich dazu: und wer mit den Unterarten der gothic novel und der victorian gothic nicht viel anfangen kann, wird sich an diesen Punkten wohl etwas stärker stoßen. Den Rest erwartet eine schön gestaltete, herrlich altmodische Gruselromanze, die sich kenntnisreich an ihrer Vorgeschichte in Literatur & Film entlanghangelt – das Publikum hat's mit einem ordentlich Flop vergolten.
7,5/10
1.) Crowes Geburtsjahr wird je nach Quelle auch im Jahr 1803 angesiedelt.
2.) Braddons Geburtsjahr wird je nach Quelle auch im Jahr 1837 angesiedelt.
3.) Crokers Geburtsjahr wird je nach Quelle auch im Jahre 1849 angesiedelt.
4.) Meades Geburtsjahr wird je nach Quelle auch in den Jahren 1844 oder 1879 angesiedelt.
5.) Bacons Todesjahr wird je nach Quelle auch im Jahr 1916 angesiedelt.
6.) Zwei deutschsprachige Sammlungen, in denen zum Großteil oder ausschließlich Schriftstellerinnen auftauchen, wären Franz Rottensteiners "Viktorianische Gespenstergeschichten" (Suhrkamp 1987) oder die Übertragung von Peter Hainings "The Gentlewomen of Evil" (1967), welche 1969 als "Die Damen des Bösen" in gebundener Form bei Goverts herauskam und ab 1971 bei Fischer mehrfach als Taschenbuch-Version neu aufgelegt worden ist. Viele der genannten Autorinnen liegen im englischen Original in der preisgünstigen Reihe Tales of Mystery & The Supernatural bei Wordworth Editions vor (auch in der von David Blair herausgegebenen Sammlung "Gothic Short Stories" (2002), die in dieser Reihe enthalten ist).
7.) Roald Dahl's Buch der Schauergeschichten. Rowohlt 1998. S. 11.