Review

Season 1
erstmals veröffentlicht: 05.12.2017

Marvel in Serie. Laufen alleine die Kinofilme schon Gefahr, die Serialisierung zu intensiv voranzutreiben, bekommen die Comicfiguren nun erst Recht Hüpfraum im Überfluss. Keine Überraschung dabei: Die Inszenierung ähnelt zunächst einmal derjenigen generischer Feierabendunterhaltung. Sie ist weder besonders virtuos, noch verfügt sie über eine besondere Note, geschweige denn versucht sie, Schemata aus dem Baukastenprinzip für Großstadt-Krimiunterhaltung zu vermeiden.

Und doch, dieses spezielle Format hat etwas. Natürlich liegt das einmal am Cast, denn alle drei Darsteller sind auf ihre verschiedene Art Volltreffer. Charlie Cox ist ein guter Daredevil, der angemessen unnahbar seine eigenen Kämpfe austrägt. Darüber hinaus beweist der Schauspieler große Wandlungsfähigkeit, wenn man zum Beispiel mal an seine Rolle in „Boardwalk Empire“ zurückdenkt, die völlig anders wirkt. Deborah Ann Woll hat schon in „True Blood“ bewiesen, dass sie einen ganz speziellen Typ spielen kann wie kaum eine andere auf dem Markt. Verletzlichkeit, Schönheit und Stärke gehen bei ihr Hand in Hand. Und Elden Henson ist der Knuddeltyp, der das Publikum in Sachen Sympathiepunkte abholt. Aber dann ist da eben auch noch der großartige Supportcast (Toby Leonard Moore, Rosario Dawson, Vondie Curtis-Hall, Scott Glenn), aus dem Vincent D'Onofrio mit einer beängstigenden Ausstrahlung hervorsticht. Sein Kingpin, dessen Villain-Name die gesamte Staffel über niemals ausgesprochen wird, lässt mit Blick auf die Vorlagentreue keinerlei Wünsche offen und funktioniert dennoch ausgezeichnet im TV-Format. Die Episode, in der seine Vergangenheit aufgerollt wird, klopft sogar ambitioniert bei erzählerisch anspruchsvolleren Formaten wie „Breaking Bad“ an und lässt für einen Moment das simple Konzept „noch eine Stunde Comic-Action vor dem Schlafengehen“ vergessen.

Die Chemie stimmt einfach und das spürt auch das Publikum. Mögen Drehbuch und Regie bisweilen auch in Standards verweilen, die Charaktere liegen einem schnell am Herzen und man ist schon bald brennend daran interessiert, welchen Verlauf ihre Schicksale nehmen. Noch dazu überzeugt die Optik. Hell's Kitchen wirkt wie von Ruß eingefärbt, eine gelungene Verbeugung vor dem Noir, die noch dazu in einem raffinierten Doppelspiel mit der Wahrnehmung der Hauptfigur spielt; denn über die nachtfarbene Optik nimmt man praktisch seine Perspektive ein.

Fast schon schade, dass Daredevil in der letzten Folge schließlich sein rotes Kostüm überstreifen darf, denn der mitunter noch etwas übermütige Streifgang durch die Gassen im schwarzen Ninja-Einteiler hatte etwas Authentisches, das mit der Folgestaffel hoffentlich nicht verloren gehen wird.


Season 2
erstmals veröffentlicht: 02.10.2018
Auch wenn Staffel 1 noch viele andere Qualitäten vorzuweisen hatte, es besteht wohl kaum ein Zweifel daran, dass Vincent D'Onofrio ihr Highlight war. Mit völliger Berechtigung wurde ihm mittendrin ein ausschweifender Origin-Exkurs gewidmet und was immer auch später im düsteren Hell's Kitchen geschah, die Spur führte ausnahmslos immer zu ihm. Vielleicht war er es am Ende, der "Daredevil" zum König der Comic-Serien krönte, vielleicht war er der Unterschiedmacher, den es brauchte, um die Konkurrenz vollständig abzuschütteln.

Zweimal aufeinanderfolgend die gleiche Karte ausspielen konnte man jedoch nicht, so viel stand fest. Was bisher geschah, hatte etwas von dem Prolog einer langen Fehde zwischen Erzfeinden, und die Serie tut gut daran, das Potenzial eines erneuten Aufeinandertreffens noch ein wenig im Unvollendeten köcheln zu lassen. Dennoch: Ein solches Schwergewicht muss man erst einmal kompensieren - eine Mammutaufgabe, die dem Autorenteam durch die Einführung zweier alter Bekannter erstaunlich gut gelingt.

Anstatt plump einen weiteren Über-Gegner zu installieren, wird zunächst das Loch greifbar gemacht, das Fisks Abwesenheit in Hell's Kitchen hinterlassen hat. Aufstrebende Gangster wittern ihre Gelegenheit, zum Super-Prädatoren aufzusteigen und schalten sich unter Einfluss dieses Irrglaubens gegenseitig aus (eine frühe Sequenz um ein irisches Syndikat spielt dabei herrlich mit den Zuschauererwartungen); Medien und Justiz scheinen völlig aus dem Konzept gebracht. Der so wunderbar in Schwarz-, Rot- und kranke Ockertöne getauchte Grobschnitt der Stadt fungiert weiterhin als Moloch für Kriminelle, die braven Bürgern das Leben schwer machen, doch ein Bruch ist spürbar. Die Autoren verstehen es nach dieser Aufbereitung wahrlich, den Neuzugängen einen angemessenen Empfang zu bereiten und sie mit Paukenschlägen in die Handlung zu werfen. Als Jon Bernthal und kurz darauf Élodie Yung endlich auf den Plan treten, wird jeglicher Vergleich zu einer Figur wie Wilson Fisk vermieden und für Hauptcharakter Matt Murdock / Daredevil ergibt sich eine völlig neue Konstellation.

Mögen das gepimpte Kostüm des blinden Rächers und die prominenten Neuzugänge das Comic-Flair auch deutlich anheben, insgesamt bleibt "Daredevil" erfreulicherweise seiner erdigen Ausrichtung treu. Mit ikonischen Elementen aus der Vorlage wird zunächst immer nur subtil gespielt (etwa im Punisher-Schädel, der sich in einer Röntgen-Aufnahme bereits ankündigt), damit sich diese über viele Episoden hinweg natürlich entwickeln können. Schmutzige Hände werden auch weiterhin nicht gescheut; das Gewaltlevel ist für eine Produktion dieser Art erstaunlich hoch. Hauptsächlich erfüllt es den Zweck, die hochprofessionell choreografierten Action-Einlagen mit einer gesunden Härte auszustatten. Diese überzeugen auch ansonsten mit fein austarierter Konzeption, die sogar gewisse Assoziationen zu den berüchtigten Plansequenzen aus "Oldboy" oder "The Villainess" erzeugt, was für eine TV-Serie mehr als bemerkenswert ist.

Insgesamt bleiben die Stärken und Schwächen in etwa die gleichen. Die Dialoge könnten definitiv mehr Feinschliff vertragen, in einigen Momenten wirken sie regelrecht cheesy, insbesondere, wenn es gilt, Freundschaften zu retten, die zu zerbrechen drohen. Andererseits bleibt die Chemie zwischen Charlie Cox, Deborah Ann Woll und Elden Henson so gut wie eh und je, vielleicht auch, weil mit Bernthal und Yung neue Impulse von außen Einfluss nehmen auf das einst so verschworene Dreigespann. Und auch wenn das Drehbuch am Ende einfach Puzzleteile zusammensteckt, die sich durch die Charakterzeichnung ergeben: Nach dem Kingpin werden nun auch der Punisher und Elektra mit Interpretationen geehrt, die ihnen alle Ehre machen.

Hoffentlich hat die Produktionspause im Jahr 2017 nur Gutes für die bald startende dritte Staffel zu bedeuten, denn es braucht Energie und Inspiration, um eine solche Serie auf dem gleichen Niveau weiterzuführen. Ein Jahr ohne den Roten ist ein Opfer, das man dafür gerne bringt.

Weitere Staffelbesprechungen können folgen.

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