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Unmittelbar zu Beginn des aus dem Jahr 2014 stammenden kanadischen Low-Budget-Crime-Thrillers „88“ kommt eine junge Dame namens Gwen (Katharine Isabelle) am Tisch eines kleinen Diners sitzend wieder zu sich – desorientiert und verwundert sowie u.a. mit einer schmerzenden, verbundenen Hand, der ein Finger abgerissen wurde, einem Rucksack an ihrer Seite und einem bestellten Frühstück vor sich stehend. Wie es sich herausstellt – und das erst eine Weile später – litt sie bis zu diesem Moment eine Zeit lang an einer sogenannten „Dissoziativen Fugue“: Bei eben jener handelt es sich um eine durch ein traumatisches Ereignis (in diesem Fall: der gewaltsame Tod ihres Freundes) ausgelöste, mit einer Amnesie verknüpfte Persönlichkeitsstörung, im Rahmen derer sich die Betroffenen meist aus ihrer gewohnten Umgebung entfernen, es zu der Herausbildung einer neuen, fortan oft „weniger reserviert“ agierenden Identität kommen kann und sich der- oder diejenige an seine bisherige Vergangenheit (sei es in Teilen oder gar komplett) nicht mehr zu erinnern in der Lage ist. Kehrt der Leidtragende irgendwann in den „ursprünglichen Zustand“ (vor der Fugue) zurück, tritt wiederum häufig ein Gedächtnisverlust auf, der die in jener Phase widerfahrenen Erlebnisse (in vergleichbarer Weise wie währenddessen, nur dann halt andersherum) umfasst…

Durcheinander und verängstigt im Angesicht der Situation schaut Gwen nach, was sie so mit sich führt: In erster Linie ein Motel-Schlüssel, diverse Kaugummi-Kugeln und eine Pistole. Als eine Bedienstete des Restaurants die Waffe erblickt, gerät sie sofort in Panik – in dessen Kontext sich ein Schuss löst und dieser eine der Kellnerinnen schwer verletzt. Instinktiv flieht Gwen – wobei es ihr auch gelingt, einigen zufällig anwesenden Cops zu entwischen. Als sie ihren Boyfriend Aster (Kyle Schmid) telefonisch nicht erreichen kann, sucht sie das gemietete Zimmer auf, um dort wohlmöglich Hinweise aufzutun – und tatsächlich: Die Wände wurden von jemandem (vermutlich sie selbst) mit einer Vielzahl an Zeitungsausschnitten und Fotos versehen, auf denen der Club-Besitzer und Gangster Cyrus (Christopher Lloyd) samt einiger seiner Schergen prominent im Fokus steht. Überdies findet sie eine in der Badewanne liegende Leiche vor und taucht ein Mann an der Tür auf, der sie umgehend bedroht – flugs jedoch seinerseits von einem anderen Herren (Tim Doiron) erschossen wird. Dieser heißt Ty, kennt Gwen unter dem Namen „Flamingo“ und berichtet ihr davon, dass sie beide zuletzt gemeinsam hinter Cyrus her waren, da jener offenbar sowohl Aster als auch seine Schwester Dakota (Haley Shannon) „auf dem Gewissen hat“…

„88“ ist eine relativ uneben-wüste Angelegenheit: Ein eigenwilliges B-Movie, das wie eine Kombination aus einem typischen „Tarantino Knockoff“ und einer dieser Filme anmutet, in denen eine an Schizophrenie oder sonstwie gearteten Gedächtnis-Beeinträchtigungen leidende Person die verwirrenden Umstände ihres Zustands in den Griff zu bekommen und ebenso eine spezifische Form von Vergeltung auszuüben versucht (siehe z.B. „Memento“ oder „the Machinist“). Sich stetig abwechselnd, werden dem Zuschauer Geschehnisse verschiedener Zeitebenen präsentiert: Gwen nach ihrem „Erwachen“ im Diner, die Tage zuvor, in denen sie „als Flamingo“ unterwegs war, plus (in Gestalt mehrerer Flashbacks) bestimmte noch weiter zurück liegende Entwicklungen, die am Ende zu Aster´s Ableben führen bzw. geführt haben. Ihr nicht unähnlich erschließt sich auch dem Betrachter das Gesamtbild erst nach und nach: Reizvoll für einige – für so manchen Unaufmerksamen oder Ungeduldigen mit Sicherheit aber ein recht „abtörnendes“ Unterfangen. Da sich die Übergänge allerdings deutlich hervorgehoben vollziehen, sich Gwen und Flamingo derart divergent stylen und verhalten sowie die Handlung an sich nicht sonderlich komplexer Beschaffenheit ist, sollte man spätestens nach rund 30 Minuten das meiste jedoch ganz passabel „erfasst“ haben…

Das erste Mal, dass wir Flamingo sehen, rennt sie im Morgengrauen (ein auffälliges rotes Kleid tragend) eine einsame Landstraße entlang – bis sie am Seitenstreifen zusammenbricht. Kurz darauf hält ein zufällig vorbeikommender Wagen: Als der Fahrer aussteigt, um nach ihr zu schauen, springt sie ihn urplötzlich an, prügelt ihn zu Boden, schlägt seinen Hinterkopf des Öfteren auf den Untergrund und stiehlt ihm seinen schicken „Ford Mustang“, nachdem er sich zu regen aufgehört hat. Ihr zweiter Auftritt entfaltet sich dann in einem kleinen Mini-Mart, in welchem sie sich u.a. einige Haare abschneidet und sich mitten im Laden (vor den Augen des überraschten jugendlichen Verkäufers) umzieht – während ihr nächster sie primär auf ihrem Motel-Zimmer zeigt, wo sie sich in Unterwäsche auf dem Bett räkelt, mit Milch übergießt sowie anschließend unter die Dusche steigt. Andauernd rauchend und wiederkehrend von „Erinnerungsfetzen“ heimgesucht, ist es Flamingo´s Bestreben, Cyrus auszuspüren und sich an ihm zu rächen. Dafür ist sie über Leichen zu gehen bereit. Gwen´s Zeugewerden von Aster´s Tod hat bei ihr die Fugue hervorgerufen – samt der (konträren) Spaltung ihrer Psyche: Eigentlich ist sie zurückhaltend, schüchtern und einfühlsam – wohingegen ihre „alternative Persönlichkeit“ über ein verführerisches, rücksichtsloses und gewalttätiges Wesen verfügt…

In der Hauptrolle überzeugt die wunderbare Katharine Isabelle („Torment“) mit einer absolut zufrieden stellenden Performance, die zwar wiederholt in Richtung „over the Top“ ausschlägt – in Kombination mit ihrer sichtlichen Spielfreude allerdings gerade dadurch umso mehr Vergnügen beschert. Im Prinzip kann man „88“ schon dank ihrer Mitwirkung eine gewisse Empfehlung aussprechen. Egal ob nun tough, feinnervig, eiskalt oder „erotisch aufgeladen“: Dem „Ginger Snaps“- und „American Mary“-Star gelingt es förmlich im Alleingang, mit ihrer Ausstrahlung und Darbietung die eine oder andere Schwachstelle des Werks zu kaschieren. Es ist beispielsweise so, dass nahezu jeder Protagonist einen oberflächlich gestrickten Eindruck erzeugt: Anstelle gut ausgearbeiteter Figuren haben wir es im Vorliegenden eher mit Parts zutun, die individuelle Charaktermerkmale aufweisen, welche Drehbuchautor Tim Doiron unter Garantie als schön schräg, cool und/oder „edgy“ empfand – denen es allerdings an „Tiefe“ mangelt und die maßgeblich dafür zu existieren scheinen, entweder Erklärungen zu liefern oder die Geschichte mit ihren Taten zügig voranzutreiben. Zumindest aber lassen sich vereinzelte smarte Dialogzeilen und kreative Einfälle verzeichnen – und das unabhängig der unverkennbar schlichten Natur der Story an sich…

Ty strebt ebenfalls danach, Cyrus zu töten, da seine Schwester ihr Leben in dessen Begleitung verlor – also verbündet er sich spontan mit Flamingo und hilft später auch Gwen, sich u.a. innerhalb der neuen Situation zurechtzufinden sowie ihr vereintes Ziel im Visier zu bewahren. Verkörpert wird er von Skript-Schreiberling Doiron („Gravy Train“) – und das weder subtil noch facettenreich, dafür jedoch mit einer Menge „Energie“ aufwartend, was permanent zwischen „amüsant“ und „ein Stück weit nervig“ schwankt. In genau dieselbe Kategorie fällt auch das Cameo Regisseurin April Mullens („Dead before Dawn“) als überdrehte Waffenhändlerin Lemmy: Eine skurrile Szene, die (wie so einiges im Verlauf) klar als „Geschmackssache“ zu werten ist. Für Recht und Gesetz in dem betreffenden Bezirk sorgt derweil ein örtlicher Sheriff – welchen Michael Ironside („Extraterrestrial“) gewohnt grimmig und kompetent zum Besten gibt. Problematisch daran ist nur, dass seine Leute offenbar relativ unfähig in ihrer Profession sind: Bereits im Rahmen des Einstiegs im Restaurant verärgern einen die zugegenen Cops in Anbetracht ihres dargebotenen Unvermögens – und auch sonst regt ihr Vorgehen in mehreren Momenten und Belangen zum Kopfschütteln an, was auf jeden Fall der Vorlage (samt Umsetzung) negativ anzulasten ist…

Generell wirken die vorhandenen Shootouts verhältnismäßig unaufregend, unrealistisch und uninspiriert arrangiert. Fraglos hängt das zum Teil mit den nur sehr limitierten finanziellen Ressourcen dieser Independent-Produktion zusammen – besonders evident bei Ty´s „Angriff“ auf ein Polizeirevier – doch befreit das Mullen und ihre Crew natürlich keineswegs aus der zugehörigen Verantwortung. Unterdessen haben Benoit Grey und David S. Hamilton einen brauchbaren Score komponiert, sind einige auserwählte Songs durchaus nett anzuhören, ist der zur Schau gestellte Gewaltgrad der Materie angemessen und kommt das vorgelegte Tempo angenehm straff daher. Inhaltlich „holprig“ sowie teils vorausahnbar bewegt sich alles auf eine finale Konfrontation zwischen Gwen und Cyrus zu – welche sich dann aber wenigstens etwas vom „gängigen Genre-Schema“ abzuheben vermag. Als eben jener Killer und zwielichtiger Geschäftsmann, der unter Beschuss auch schonmal prompt eine in der Nähe stehende Frau als „menschliches Schutzschild“ missnutzt, tritt ausgerechnet der vorrangig aus Komödien bekannte Christopher Lloyd („Who framed Roger Rabbit?“) in Erscheinung: Eine bedrohlich-abgründige Rolle, die er überraschend prima meistert. Darüber hinaus sind u.a. noch Kyle Schmid („Joy Ride 2“) und Jesse McCartney („Chernobyl Diaries“) in Nebenparts zu sehen…

Gemeinsam mit Cinematographer Brooks Reynolds („Set no Path“) und Editor Karl T. Hirsch („Kill 'em All“) hat Mullen hier eindeutig „Style over Substance“ fabriziert: In diesem Sinne geht jeder Erzählstrang-Wechsel mit einer kurzen, fieberhaft geschnittenen Zusammenfassung der vorherigen Ereignisse einher, gibt es diverse „optische Spielereien“ (á la „flashy“ Bildüberblendungen) und „surreale Beigaben“ (unter ihnen ein Mann mit einer Kaugummi-Kugel als Auge, die gelegentliche Gegenwart von Aster´s „Geist“ sowie verschiedene mit Milch in Verbindung stehende Dinge) zu registrieren und taucht die Titel-gebende Zahl nicht nur in Form von Adressangaben und Beschriftungen auf – sondern markiert auch noch die exakte Lauflänge des Films und erinnert einen obendrein sogar an die spezielle Geschwindigkeit der DeLorean-Zeitmaschine Mister Lloyds in „Back to the Future“! Absolut großartig gefielen mir indes knapp fünf Minuten, in denen Flamingo in die Wohnung eindringt, in welcher Aster erschossen wurde, und sie dort erneut die damit verknüpften intensiven Empfindungen (Liebe und Schmerz) zu fühlen beginnt: In jeder Hinsicht klasse – letztlich aber bloß eine Ausnahme, denn leider lässt einen der Streifen ansonsten weitestgehend „kalt“. Des Weiteren wäre ein höheres Maß an Spannung und Atmosphäre zu wünschen gewesen – doch immerhin bleiben einem Ärgernisse wie Langeweile oder Monotonie (erfreulicherweise) erspart...

Fazit: Der sich non-linear entfaltende Indie-Crime&Revenge-Flick „88“ mag zwar weder übermäßig clever, originell noch tiefschürfend sein – weiß den geneigten Zuschauer jedoch vor allem aufgrund seiner sexy-ansprechenden Hauptdarstellerin und gritty-eigenwillig-unebenen Ader „unterm Strich“ dennoch einigermaßen passabel zu unterhalten...

„5 von 10“

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