Benjamin ist Zeit seines Lebens unsichtbar. Ein Freak. Der, der in der Schule in der hintersten Reihe sitzt und nicht beachtet wird. Der nicht einmal verprügelt wird, weil ihn keiner wahrnimmt. Als Benjamin mit Computern in Berührung kommt merkt er, dass er etwas kann: Er kann verdammt gut hacken. Aber nicht gut genug, denn er wird erwischt und muss gemeinnützige Arbeit leisten. Dabei lernt er Max und seine Clique kennen, die ebenfalls hacken, allerdings auf wesentlich höherem Niveau. Gemeinsam ist man stark, und gemeinsam werden die Angriffsziele immer größer, wenngleich nach wie vor der Spaß im Vordergrund steht. Doch nicht für Max, denn Max ist ehrgeizig, und dass der größte Hacker der Welt, MRX, die Gruppe als unwichtig ansieht, brennt in ihm ein tiefes Loch. Ein richtig großes Ziel muss her – Der BND wird gehackt. Doch ab diesem Augenblick ist der Spaß vorbei: Ein Hacker einer anderen Gruppe wird ermordet, MRX fordert von den Freunden, die europäische Polizei Europol in Den Haag zu hacken, und die russische Cyber-Mafia, die wohl anscheinend mit MRX in Verbindung steht, macht Jagd auf die Gruppe. Unsichtbarkeit? Das war einmal …
Dunkle Gestalten in Hoodies, meist mit Guy Fawkes-Masken, drängeln sich in einem räudigen S-Bahn-Wagen und unterhalten sich grafisch per Messenger Box. Plötzlich kommt eine Gruppe Warzenschweingesichter herein, drängelt und schubst sich rücksichtslos durch, bis eine Person erreicht wird, die über ihrer schwarzen Maske nur ein weißes X trägt. Wir befinden uns im Darknet, wo Anonymität eine Selbstverständlichkeit ist. Die Warzenschweine sind von der russischen Cyber-Mafia, und der Mann mit dem X ist MRX, der mächtige und unantastbare Hacker. Die Stimmung ist im positiven Sinne düster, solidarisch, und grundlegend kämpferisch. So wie die Stimmung unter den Freunden, die doch zusammen eigentlich nur Spaß haben wollen. Eine Veranstaltung von Neo-Nazis wird gehackt, genauso wie das Telefonquiz eines Radiosenders, und die Fenster eines Pharmakonzerns blinken in der Nacht im Schriftzug WE KILL ANIMALS. Nichts wirklich Böses also, keine landesverräterischen Szenarien, sondern Streiche die den Reichen, Mächtigen und Doofen gespielt werden. Erst der Angriff auf den BND, obwohl mit verspieltem Resultat, bringt die Gruppe in das Zielvisier der Fahnder – und der Russen.
Ist das erzählerische Tempo bis dahin flott und die Narration schoko-flockig, so geht ab diesem Zeitpunkt der Punk ab, und er ist dunkel und hart. Die Bilder sind ein Real-Traum-Comic-Rausch im Tempo der hinterlegten Techno-Mukke, und die Geschichte schlägt mit zunehmendem Tempo einige Haken. Das große Verdienst des Regisseurs ist es dabei, den Zuschauer nicht alleine zu lassen. Niemals fehlt die Orientierung, immer weiß man wo man sich gerade befindet. Im Gegensatz zu Benjamin, dessen Welt in einer unglaublichen Geschwindigkeit zerschlagen und wieder aufgebaut und wieder zerschlagen wird. Obwohl, die letzte Zerstörung, findet die nicht eigentlich nur in den Augen des Zuschauers statt? Und was passiert danach, mit diesem unerwarteten Schlusstwist?
Diese Schauspieler. Diese unglaublich starken Schauspieler, die den Zuschauer geradezu sogartig in die Story und in ihre Welt hineinziehen. Auch wenn ich persönlich des öfteren Probleme mit den Streichen hatte (ich alte Spießersau), stellt sich prinzipiell die Frage, wer nicht gerne an der Seite von Benjamin, Max, Paul und Stefan durch die Nacht ziehen und LEBEN spüren möchte. Vor allem Wotan Wilke Möhring (“Wenn Dir das Leben Zitronen reicht – frag nach Salz und Tequila“) lässt dermaßen die Sau raus - Ich glaube der Mann hatte richtig Spaß bei den Dreharbeiten. Aber auch der ungemein charismatische Elyas M’Barek und der oft etwas zurückhaltende Tom Schilling brillieren vor dem Hintergrund aus nächtlicher Großstadt, Emo-Rock und hartem Techno.
Letzten Endes ist während des Anschauens etwas passiert, was ich ursprünglich nicht erwartet hätte: Ich empfand den Film als unglaublich spannend! Spannend und mitreißend. Erwartet hatte ich eine Mischung aus GOONIES, MATRIX und DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI. Und was habe ich bekommen? Einen Rave mit einer Mischung aus DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN und FIGHT CLUB sowie einem guten Schuss Guy Ritchie! Ein moderner europäischer Thriller mit erstklassigen Darstellern und erstklassiger Umsetzung. Stilistisch und erzählerisch wie einer dieser zeitgenössischen Thriller aus Frankreich, etwa wie der unten erwähnte SLEEPLESS NIGHT – NACHT DER VERGELTUNG. Und das ist als ganz großes Kompliment gemeint. Bitte mehr davon!
Und noch etwas ist mir aufgefallen: Nach DAS LETZTE SCHWEIGEN ist WHO AM I der zweite Film des Schweizers Barak bo Odar, der mich auf das Sofa gepresst und sprachlos gemacht hat. Und nachdem ich in den vergangenen Tagen den außerordentlichen französischen Film SLEEPLESS NIGHT mit 9/10 Mehlpäckchen bewertet habe, und Barak bo Odar das US-Remake SLEEPLESS – EINE TÖDLICHE NACHT gedreht hat, bin ich nun reichlich neugierig geworden, was der Mann denn wohl mit großem Budget so abliefert.