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„Mistaken for Stranger" ist weniger eine Musik-Doku, sondern vielmehr die persönliche Coming-of-Age-Story des Regisseurs Tom Berninger. Das ist über weite Strecken saukomisch, an den richtigen Stellen sentimental und wirkt beinahe über die gesamte Laufzeit glaubhaft und aufrichtig. Wer um Dokus im Allgemeinen und Musikerdokus im Speziellen einen großen Bogen macht, der könnte mit „Mistaken for Strangers" eines Besseren belehrt werden. Große Unterhaltung.

Matt Berninger, Leadsänger der erfolgreichen Indierockband „The National" gibt seinem Bruder Tom die Möglichkeit, anlässlich ihrer ersten großen Europatournee 2010 als Roadie zu arbeiten und einen Dokumentarfilm über die Band zu drehen. Für den Horrorfilmfan und Metalhead Tom, der stets im Schatten seines exzentrischen großen Bruders stand, entwickelt sich die Reise zu einem Selbstfindungstrip. Aus der Doku über die Band wird mehr und mehr eine Reflektion über sein eigenes Leben.

Seit jeher steht der Dokumentarfilm im Spannungsfeld zwischen größtmöglicher objektiven Authentizität und bewusster Zuschauermanipulation. Seitdem auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist, dass bei Tierdokus schon seit Jahrzehnten kräftig nachgeholfen wird, gehen Dokumentarfilmer vermehrt in die Offensive, indem Sie das subjektive Element einer jeden Dokumentation zur Methode erklären und sich dafür mitunter sogar selbst inszenieren. Perfektioniert hat das um die Jahrtausendwende Michael Moore mit seinen erfolgreichen und preisgekrönten Dokus "Bowling for Columbine" (1999) und "Fahrenheit 9/11" (2004), die seit den Nullerjahren eine wahre Flut linkspolemischer Nachzügler („Eine unbequeme Wahrheit", „Religious", „We feed the world", „Plastic Planet", „Lets make money") folgen ließ. Auch vor dem Subgenre der Tierdokumentationen machte dieser Trend nicht halt. Luc Jacquet unterlegte 2005 „Die Reise der Pinguine" mit fiktionalen Dialogszenen (zwischen Tieren), die das Geschehen emotionalisierten und zog damit zahlreiche Nachahmer („Unsere Ozeane", „Unsere Erde", „Unser Leben") nach sich. Daneben gibt es aktuell einen Trend dokumentarisches und fiktionales bzw. inszeniertes Material zu vermischen. Im preisgekrönten Dokumentarfilm „The Act of killing" (2012) schafft Regisseur Joshua Oppenheimer indonesischen Volkhelden eine Plattform, ihre Heldentaten für die Nachwelt zu inszenieren, um sie als Kriegsverbrechen zu entlarven. Für die deutsche Skater-Doku „This ain't California" (2013) wurden ganze Interviews und fiktionalisierte Spielfilmszenen inszeniert. Mockumentarys wie „This is Spinal Tap" (1984) und „Fraktus" (2012) gehen noch einen Schritt weiter und erzählen unter dem Deckmantel einer Dokumentation vollkommen fiktionale Geschichten. Offenkundig eignet sich das Subgenre der „Musikdokumentation", das nicht selten als reiner Promostreifen für den portraitierten Künstler (z.B. Justin Bieber - Never say never) daherkommt, besonders für eine demaskierende Satire. Dieses Umstandes scheinen sich die Macher (Tom Berninger erhielt fachkundige Hilfe der Filmemacherin Carin Besser der Ehefrau von Matt Berninger) von „Mistaken for Strangers" durchaus bewusst. So ist statt unreflektierter Lobhudelei am Ende eine spielfilmhafte Heldenreise des Regisseurs, vergleichbar mit Doku-Komödien-Hybriden wie „King of Kong" (2007) herausgekommen.

Die Band „The National", deren Performances und auch der Frontman Matt Berninger spielen dabei eine untergeordnete Rolle, was dem Film auch für Nichtkenner/-Fans attraktiv machen dürfte. Vergleichbar einer fiktionalen Spielfilmhandlung fungiert die Musik-Doku selbst als auslösendes Element, das die Handlung ins Rollen bringt. Zu Beginn nimmt die Charakterisierung des schwarzen Schafs Tom dann auch sehr viel mehr Raum ein, als des Bruders. Der darf quasi im gesamten weiteren Verlauf des Films quasi alle Klischees des exzentrisch-intellektuellen Indie-Rockstars erfüllen, praktisch ohne weitere Facetten oder Entwicklungen zu durchlaufen. Im weiteren Verlauf des zweiten Aktes werden die Band und ihre Entourage dann sogar zum antagonistischen Gegenpol aufgebaut, an dem sich der grundsympathische, aber ebenso planlose und verantwortungslose Hobbyfilmer Tom abarbeiten darf. Neben dem strengen Bandmanager, der ihn an der kurzen Leine hält, lassen auch die schüchternen artyfarty Bandkollegen seines Bruders immer wieder ihre Geringschätzung für den bemitleidenswerten Metalhead durchblicken. Über allem thront dabei Matt Berninger als patriarchalischer Bandleader und Überbruder, der auf seinen Bruder offenbar eine ähnlich einschüchternde Wirkung besitzt, wie auf seine Bandkollegen. Sein Bruder Tom hingegen entpuppt sich als Loose-Canon inmitten des wohlgeordneten Tour-Alltags von „The National". Dabei wird quasi im Vorbeigehen das kuriose Bild einer Indie-Band gezeichnet, die vordergründig zwar jedes Klischee erfüllt, in Wahrheit aber bemerkenswert spießig daherkommen, während. Tom der landläufigen Meinung des Rock'n Rolls über weite Strecken noch am nächsten kommt. Als Running-Gag funktionieren Tom behämmerte Regieanweisungen, die die Rockstars gottergeben über sich ergehen lassen und sinnbefreite Interviewfragen. Wer also wissen möchte, ob „The National" während ihres Auftritts ihre Portemonnaies dabei haben, sollte sich „Mistaken for Strangers" nicht verpassen. Auf der anderen Seite ist sich Regisseur und Hauptdarsteller Tom auch nicht zu schade, sich selbst, seine Selbstüberschätzung und Trotteligkeit der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Selbstentblößung findet im dritten Akt ihren Höhepunkt, in dem er das gesamte Projekt und letztlich auch seine eigene Person hinterfragen darf. Hier gelingen einige wirklich berührende Szenen, die trotz der offenkundigen Fremdinszenierung weitgehend authentisch und glaubhaft bleiben. Die Frage ist, inwieweit Tom hier noch Herr seines eigenen Films ist, trifft nicht nur auf der profanen Handlungsebene zu. Die Einquartierung bei Matts Ehefrau und Filmemacherin Carin Besser gibt darauf schon einen starken Hinweis und spätesten hier poppt sie wieder auf, die ewige Frage, mit der Dokumentarfilme zu kämpfen haben: Was ist echt, was ist inszeniert? Dass sich Rockstar Matt insbesondere hier ein Stück weit vom arroganten Rockstar zum besorgten großen Bruder wandelt, ist der einzig wirklich aufgesetzt Moment des Films. Das ist allerdings spätestens bei der brillanten Schlussszene vergessen, die die Beziehung zwischen Matt und Tom visuell wunderbar auf den Punkt bringt.

Am Ende bleibt eine äußerst vergnügliche Heldenreise des Loosers Tom Berninger, der für Fans von „The National", den Bonus bietet, dass sein charismatischer Frontmann eine wichtige Nebenrolle spielt.

Daran werde ich erinnern: Die sinnloseste Interviewfragen der Welt.

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