1947 fand in der Kleinstadt Hollister in Kalifornien ein Treffen der American Motorcyclist Association statt, in dessen dreitägigem Verlauf es zu einigen Verhaftungen kam, meistens wegen Trunkenheit oder öffentlichem Urinieren oder sowas. Auch Verletzte gab es, weil besoffen Motorradfahren halt so supercool ist … Über die Jahre hinweg wurde dieses Event aber zu einem Massaker mittleren Ausmaßes verklärt, zu einem Sturm der über die kleine Stadt hereinbrach, und der mit einer der wesentlichen Gründungsmythen für die damals im Entstehen befindliche Rockerszene in den USA war. Vor allem aber waren diese drei Tage die Vorlage für den Film DER WILDE, mit dem Marlon Brando seinen Ruhm begründete. Fortan lebten vor allem die kleineren und abgelegeneren Ortschaften in der Angst, eines Tages von Rockern überfallen und vernichtet zu werden, während gleichzeitig in den Kinos das Genre des Biker-Films zu Ehren kam.
Was ein paar Jahre und einige Filme später dann zu REBELLEN IN LEDERJACKEN führt. Nachdem einer der Skulls aus Versehen einen Mann totgefahren hat, ist es für die Gang das Vernünftigste, aus der Stadt zu verschwinden. Der Anführer Cody nutzt die Chance, endlich seine Träume von einem freien und unabhängigen Leben verwirklichen zu können: Er möchte seine Leute nach Hole-in-the-Wall führen, dem mythischen Ort der Bande von Butch Cassidy, und dort ein Paradies auf Erden aufbauen. Unterwegs kommen sie durch den kleinen Ort Brookville, wo gerade ein Rummel stattfindet und eine Schönheitskönigin gewählt wird. Die Rocker benehmen sich nicht so ganz manierlich und sollen fortgejagt werden, der Sheriff allerdings setzt komplett auf Deeskalation und lässt die Gruppe am Flussufer außerhalb der Stadt übernachten. Die Schönheitskönigin begleitet die Rocker, zieht im Lager an einem Joint, und kann sich anschließend nur knapp einer drohenden Massenvergewaltigung entziehen. Aus dem „Sie wollten mich vergewaltigen“ wird dann in der Stadt aber ganz schnell ein „Sie wurde vergewaltigt“, und der Sheriff, der das Märchen zwar nicht glaubt und weiterhin deeskalieren möchte, sieht sich gezwungen Cody zu inhaftieren und die anderen fortzujagen. Die anderen, das sind 32 wütende Rocker, die sich für die erlittene Schmach rächen wollen. Aus einem nahegelegenen Ort werden 200 Mitglieder der befreundeten Stomper geholt, und nun kann ein Razzle-Dazzle stattfinden: Macht Kleinholz aus Brookville …
Das Leid einer Führungspersönlichkeit, schon so oft im Film gesehen, und doch immer wieder tragisch: Wie der Anführer nach und nach an Halt in seiner Gruppe verliert, bis er am Ende abgesägt wird. Bis ihm keiner mehr folgt, und die Ideale, die er einmal hatte, im Wüstensand oder wo auch immer begraben werden.
Hier ist es John Cassavetes als Cody, der einen klugen Kurs zwischen einer intelligenten Führung und lustgesteuertem Vergnügen fährt, und damit bei seinen Leuten lange Zeit ziemlichen Erfolg hat. Doch das Vermeiden von ernsthaftem Terz, Bambule nur dann wenn sie nicht sinnlos ist, das ist ein Weg der nicht allen seinen Leuten schmeckt, und in dem Augenblick, in dem Cody im Knast ist, können die anderen endlich aus dem engen Korsett Codys ausbrechen und das tun, was sie schon immer machen wollten: Ordentlich und ohne Rücksicht auf den Putz hauen.
Schon zu Beginn wird klar, dass Cody einen Kuschelkurs fährt: Einer der Gruppe, Gage, fährt im Beisein aus Versehen einen Mann tot und begeht Fahrerflucht, und Cody ist klar, dass die Cops jetzt bedingungslos Jagd auf die Skulls machen werden. Er könnte jetzt die Situation eskalieren lassen und die Heimatstadt Presidio mit Gewalt und Terror überziehen, aber nachdem die Gang in den letzten Jahren von 200 Leuten auf 32 geschrumpft ist, zieht Cody lieber die Samthandschuhe an und will weg aus der Stadt. In die Wildnis, und an einem einsamen Ort ein Leben in Freiheit führen. Erst viel zu spät muss er lernen, dass seinen Leuten diese Freiheit nicht passen wird, wenn nicht gleichzeitig Action geboten wäre. Und Action, dass bedeutet Auseinandersetzungen mit der Polizei. Etwas, was Cody unbedingt vermeiden will, seine Leute aber unbedingt provozieren wollen …
Denn im Grunde seines Herzens ist Cody genau der Spießer, der er eigentlich gar nicht sein möchte, und als der er sich selber auch gar nicht sieht. Er sehnt sich nach einem ruhigen Leben mit seiner Süßen und seinem Motorrad. Dass die Süße eher auf Razzle-Dazzle steht als auf beschauliche Freiheit, das ist eine der beiden Kernaussagen von REBELLEN IN LEDERJACKEN: Was kümmert mich morgen, ich lebe heute, und heute will ich FEIERN!(1) Saufen, kiffen, vögeln, und ordentlich einen losmachen, das ist es was zählt. Das Zielpublikum im damaligen Kino, jung und männlich, dürfte ordentlich Spaß gehabt haben und sich eher mit den Rockern identifizieren als mit dem bürgerlich erscheinenden Cody.
Der wiederum mit seinem weißen Seidenschal auch im Habitus eines Staffelführers eines Bombers aus dem zweiten Weltkrieg erscheint – Zumindest wird damit der Mythologie Genüge getan, dass die Staffelführer solche Schals trugen, und da die Rockerbewegung originär aus Ex-Bomberpiloten hervorging, die nach dem Krieg den Anschluss an das gewohnte Leben nicht mehr so ganz geschafft haben, ist hiermit im Film auch eine Verbindung zur historischen Wahrheit geschaffen worden. Das „Massaker von Hollister“ wird also in einem anderen, moderneren Kontext erzählt, ohne Rücksicht auf soziologische oder historische Befindlichkeiten, sondern aus der Unterhaltungssicht heraus. Was dem Zuschauer damals wie heute auf jeden Fall anderthalb vergnügliche Stunden verschafft …
Die andere Kernaussage ist, dass die Spießer halt eben Spießer sind. Dämliche Mistkerle, die aus jeder Mücke einen Elefanten machen, nur weil man anders aussieht. Die aus „Da war nichts“ zuerst ein „Da hätte was sein können“ machen, und aus der Schlussfolgerung „Da war was!“ die Berechtigung zur Selbstjustiz extrahieren. Willkommen in der Realität des wahren Backwood Horrors! Und auch hier dürfte das damalige Zielpublikum, jung und männlich, im Kino gejohlt haben vor Vergnügen, wenn der beschlafanzugte Bürgermeister gedemütigt wird …
REBELLEN IN LEDERJACKEN ist schnell und klug erzählt, und vergisst bei aller Klugheit aber auch nicht, dass Unterhaltung im Biker-Film mit viel Action und lauten Motorrädern gleichzusetzen ist. Der Film spricht Bauch und Kopf gleichermaßen an, weswegen er auch heute noch hervorragend funktioniert. Und mindestens genauso viel Spaß macht wie ein Razzle-Dazzle …
(1) Man kann davon ausgehen, dass der Film vermutlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1966 gedreht wurde (Premiere war im April 1967). Die Band THE DOORS hat ab etwa Mai 1966 das Lied When the music’s over live gespielt, und in diesem Song kommt die Zeile We want the world and we want it now! vor. Eine bemerkenswerte Koinzidenz, denn dies ist genau die Philosophie, die von den Rockern im Film gelebt wird, und die auch in den nächsten Jahren das kulturelle Leben der Weltjugend dominierte: Schau nicht auf das morgen, lebe heute und nimm Dir was Du willst. Noch bemerkenswerter allerdings wenn man sich überlegt, dass Cody im Film mit dieser Haltung nicht erfolgreich ist, endet sein Traum von Freiheit und Unabhängigkeit zumindest vorläufig und bereits zwei Jahre vor EASY RIDER im Staub einer Kleinstadt in der Wüste.
Oder wird Cody mit diesem Ende andererseits erst recht mit der Freiheit konfrontiert? Nämlich der Freiheit, dem Gruppenzwang seiner Gang zu entsagen und sich zukünftig tatsächlich vollkommen unabhängig und damit im wahrsten Sinne “frei“ verhalten zu können? Unter diesem Gesichtspunkt wird Cody möglicherweise seinen Namen ablegen und zwei Jahre später als Wyatt auf einem Chopper wieder auftauchen. Ohne Gruppe, mit viel Freiheit, aber auch mit einem definierten Ende …