Die alten Griechen nannten es "Katharsis", das urmenschliche Bedürfnis bzw. die Notwendigkeit, sich von den unterschiedlichsten Gefühlsregungen wie Schmerz, Wut oder Aggression ab und an zu befreien, sich seelisch zu "reinigen". Damals sollte man am besten ins Theater gehen, um seelischen Ballast loszuwerden und wieder Ordnung in den Gefühlshaushalt zu bekommen, da man dort mit den Protagonisten mitfühlen konnte. Heute geht man eher ins Kino bzw. schaut sich zuhause einen guten Film an, um im besten Fall zum gleichen Ergebnis zu kommen. Oder man lässt Dampf ab beim Sport etc. pp. Wichtige Sache, diese Katharsis.
Der im vergangenen Jahr erschienene Low-Budget-Film "The Purge" und sein Nachfolger "The Purge: Anarchy" greifen die Idee der Reinigung bzw. Säuberung auf und das aus meiner Sicht in sehr gelungener und auf interessante Weise. Die Handlung ist in der nahen Zukunft angesiedelt, die Regierung der USA (die "Neuen Gründerväter") führt einmal jährlich die "Purge-Nacht" durch, während der für 12 Stunden alle Verbrechen einschließlich Mord legal sind. Das System scheint insofern zu "funktionieren", als dass sich Kriminalitätsrate und Arbeitslosenzahlen auf einem historischen Tief befinden. So weit, so gut... oder eben auch nicht. Welche Konsequenzen diese öffentlich erlaubte Säuberung mit sich bringt, führen beide Streifen anschaulich vor Augen.
Nach meinem Empfinden gehört die den Filmen zugrunde liegende Idee mit zum Besten, was das Kino der vergangenen Jahre hervorgebracht hat. Auch wenn Teil 1 einiges an Kritik einstecken musste, ist es gut, dass die Fortsetzung möglich war. Diese konnte vor allem deshalb realisiert werden, weil der günstige Erstling ein Vielfaches seiner Kosten einspielte und zum waschechten Kassenschlager mutierte. Beschränkte sich das Original (vor allem aus Budgetgrüden) auf die Auswirkungen dieser Nacht auf eine einzelne Familie und ist deshalb auch der Home-Invasion-Sparte zuzuordnen, so nimmt "Anarchy" eine größere Perspektive ein und beobachtet das Treiben in Los Angeles in der Nacht des 21. März im neunten Jahr der neuen Regierung. Gezeigt wird eine Bandbreite an Ereignissen, die alle Resultat der Säuberung sind. Was man da zu sehen bekommt, sind die zahlreichen Facetten menschlichen Verhaltens. Das Bedürfnis, sich zu reinigen, ist unterschiedlich ausgeprägt und die Mittellosen purgen anders als die Vermögenden, die sich z.B. ein Opfer kaufen können. An Ideen mangelt es nicht. Eine korpulente Frau etwa zieht sich auf das Dach eines Wohnkomplexes zurück und vollstreckt, wild um sich ballernd auf alles, was sich bewegt, Gottes Willen, zumindest glaubt sie das. Ein anderer meint, er müsse seine Nachbarin, die ihn sonst keines Blickes würdigt, endlich für ihre Missachtung bestrafen und holt sich in dieser Nacht sein "Recht".
Als Zuschauer fragt man sich unwillkürlich, was man in dieser Situation tun würde. Ich bin mir sicher, dass die Antworten darauf nicht einheitlich ausfallen würden. Auch wenn ich die Hoffnung habe, dass sich ein Großteil unserer "aufgeklärten Menschheit" angewidert abwenden würde, so glaube ich gleichzeitig, dass das, was der Film zeigt, durchaus realistisch ist und sich die Auseinandersetzung mit dieser Problematik lohnt.
Es gefällt mir, dass "The Purge: Anarchy" einen Spagat schafft: gut zu unterhalten und gleichzeitig zum Nachdenken anzuregen. Leicht hätte der Film abgleiten und "niederen Instinkten" Raum geben können, aber meiner Einschätzung nach passiert das nicht.
Auch das Ende halte ich für gelungen. Wichtige Aspekte, die das Szenario hergibt, werden durchgespielt und teilweise aufgelöst, berechtigte Fragen aufgeworfen, ohne diese jedoch alle zu beantworten. So bleibt Raum zum Reflektieren und für eine Fortsetzung, die es hoffentlich geben wird.
Fazit: Von mir gibts eine klare Empfehlung, ein Kinoticket zu kaufen bzw. den Film zu sehen. Wer Teil 1 verpasst hat, braucht sich keine Gedanken machen, "Anarchy" funktioniert auch ohne den Vorgänger. Den kann man sich später immer noch ansehen bei gewecktem Interesse.