Die Melancholie der Gewalt
BEYOND HYPOTHERMIA (OT: LIP JEUNG 32 DIY) von Patrick Leung
Hongkong 1996
Die Protagonistin in Patrick Leungs Film hat keinen Namen, keine Vergangenheit, keinen dauerhaften Wohnort und keine Freunde. Sie verdient ihr Geld als Auftragskillerin, eine Tätigkeit, der sie emotionslos und mit größter Professionalität nachgeht. Das Bemerkenswerteste jedoch ist, dass ihre Körpertemperatur bei ganzen 32 °C liegt. Und damit sind wir mittendrin im ostasiatischen Filmschaffen, denn wo in der Welt würde man uns sonst mit größter Selbstverständlichkeit eine derart absurde titelgebende Idee vorsetzen? Doch wenn man gleich zu Beginn des Films sieht, wie sie in einem Kühlhaus, umgeben von Eisblöcken, ihrer ungewöhnlichen Tätigkeit nachgeht, erscheint das schon gar nicht mehr so abwegig. Man kommt schnell an in der Welt der Killerin, einer Welt der Kälte, der Leere und der Gewalt. Und was Letztere betrifft, so gibt es hier keine Kompromisse: Nur wenige Sekunden zögert sie, bevor sie auch einem kleinen Mädchen zwischen die Augen schießt.
Aber auch in ihr beginnen sich Gefühle zu regen. Das Verlangen, teilzuhaben am ganz banalen alltäglichen Leben, zumindest partiell auszubrechen aus dieser Welt jenseits des Kältetodes. Der Wunsch nach einer Identität, nach Kommunikation, Wärme und nicht zuletzt einem Mann.
Sie sucht nicht lange - gegenüber ihrer Unterkunft hat ein Nudelkoch sein kleines Lokal, in dem man auch zu später Stunde noch etwas zu essen bekommt. Dorthin begibt sie sich nun jedes Mal, wenn sie einen Auftrag erledigt hat, um gegen das Empfinden von Verlorenheit und Erschöpfung, das sich in solchen Momenten in ihr breitmacht, anzukämpfen und ohne Verbindlichkeiten die Nähe des Kochs zu suchen. In seiner gutmütigen und offenherzigen Art findet sie einen idealen Gegenpol zum Inhalt ihres bisherigen Lebens. Langsam und fast unbeholfen erfolgt die Annäherung der beiden grundverschiedenen Menschen, und im Laufe der Zeit entwickelt sich eine stille Liebesgeschichte.
Von nun an aber hat sie den Kopf nicht mehr frei, um ihrer Tätigkeit mit der gewohnten Routine nachzugehen. Bei einem Auftrag in Südkorea wird sie vom Leibwächter ihres Opfers entdeckt und hat sich mit ihm einen Feind gemacht, der sie gnadenlos, ohne Rücksicht auf Verluste und getrieben von pathologischem Rachedurst verfolgt.In welche Richtung sich die Geschichte jetzt entwickelt, bevor sie im bitterschönen und knallharten Showdown kulminiert, ahnt zumindest jeder, der schon Kontakt zu fernöstlicher Dramatik hatte: In diesem Teil der Welt kennt man kein Happyend.
Leungs unterkühlte Inszenierung passt sich dem Grundgedanken des Filmes perfekt an. Ohne jeden Schnörkel führt er die Handlung voran und erspart uns vor allem in der Interaktion der beiden Hauptfiguren erfreulicherweise auch jeden überflüssigen Dialog. Hier werden große Gefühle unaufdringlich und mit kleinen Gesten vermittelt. Dazu bedarf es natürlich eines vorzüglichen Schauspielerensembles - und von einem solchen kann man hier wirklich sprechen. Lau Ching Wan verkörpert den liebenswerten Nudelkoch mit großer Glaubwürdigkeit, während Han Sang Woo in der Rolle des von der Rachsucht zerfressenen Leibwächters mit einer intensiven Vorstellung im Grenzbereich zum Overacting aufwartet. Im Mittelpunkt aber steht Wu Chien-Lien, der die Rolle der (im wahrsten Sinne des Wortes) eiskalten Killerin auf den Leib geschneidert zu sein scheint. Kann sie einerseits mit ihrer Darstellung der Hauptfigur fast Eisblumen auf den Bildschirm zaubern, so sind es andererseits gerade die Momente, in welchen sie (fast ängstlich) Gefühle zeigt, in denen der Film seine ganze Magie entfaltet. Angesichts ihrer nuanciert offenbarten Zerbrechlichkeit geraten ganz allmählich auch festgefügte moralische Wertmaßstäbe ins Wanken.
Patrick Leungs zweite eigenständige Regiearbeit bezieht ihre Kraft aus dem Wechselspiel von stillen, fast poetischen Momenten und schonungsloser Gewalt, ein Stilmittel, das im ostasiatischen Kino nicht erst seit Takeshi Kitanos Hana-Bi bekannt ist. Dennoch bleibt der Film in seiner Gesamtheit trotz aller Härten einer melancholischen Grundstimmung verhaftet, und selbst das furiose und blutige Finale erscheint im Nachhinein wie ein stilles Ausklingen, in dem sich die Schicksale der Handelnden folgerichtig und unausweichlich erfüllen.
Beyond Hypothermia ist großes Kino im unauffälligen Gewand, ein bewegender, todtrauriger Film, der für den, der sich auf ihn einlässt, weit mehr sein wird als nur ein weiterer Beitrag zum Actiongenre. Ein zu Unrecht weitgehend unbekanntes Werk, das dies aber immer bleiben wird und Gefahr läuft, bald völlig in Vergessenheit zu geraten, in Zeiten, in denen die breite Masse auch noch den zwanzigsten Aufguss seelenloser Machwerke der westlichen Großindustrie mit wachsender Begeisterung goutiert.
Da die deutsche DVD-Veröffentlichung aus dem Hause Laser Paradise kommt, braucht man sich bezüglich ihrer Qualität von vornherein keinerlei Illusionen hinzugeben. Die angesichts dieses Labels vorhersehbaren Defizite vornehmlich im Bildbereich machen sich besonders bei den Aufnahmen, die nachts oder in dunklen Räumen gefilmt wurden, bemerkbar - und das sind ziemlich viele.Überaus bedauerlich und fast kränkend lieblos ist, dass es lediglich eine deutsche Tonspur gibt. (Ein besonderer Witz ist der Menüpunkt „Sprachenauswahl", hier kann man lediglich noch deutsche Untertitel einblenden ...) Das ist vor allem deshalb ärgerlich, weil die Synchronisation einen etwas fragwürdigen Eindruck macht. Irgendwie hat man ständig das unterschwellige Gefühl, dass die Übertragung aus dem Kantonesischen ziemlich gleichgültig vorgenommen wurde. Erschwerend kommt hinzu, dass auffallend viele der Synchronsprecher wirklich sehr seltsame, unpassende und gewöhnungsbedürftige Stimmen haben, wobei in einigen Fällen die Gewöhnung einfach nie gelingen will. Insgesamt verleihen diese Schwächen im technischen Bereich dem Film einen etwas „billigen" Anstrich, den er nicht verdient hat.
Leider hat man zu dieser Veröffentlichung wenig Alternativen. Es gibt eine DVD von Ah Tung aus China (und eine von Ritek aus Taiwan, die aber mit der chinesischen identisch zu sein scheint) mit einer Mandarin-Synchronisation und englischen sowie chinesischen Untertiteln, über deren Bildqualität allerdings widersprüchliche Aussagen gemacht werden. Weiterhin liegen indiskutable gekürzte Fassungen aus Spanien und den USA vor. In Hongkong selbst ist der Film aufgrund des dort nur geringen kommerziellen Erfolgs noch nicht auf DVD erschienen. Unglaublich eigentlich, wenn man bedenkt, wie viel Unfug auch dort fast täglich auf den Markt geworfen wird. Und Patrick Leung ist in seiner Heimat ganz gewiss kein Unbekannter, immerhin hat er sich als langjähriger Assistent von John Woo einen Namen gemacht, der nicht nur ausgewiesenen Experten ein Begriff sein dürfte, und inzwischen weitere eigene Projekte realisiert.
Trotz der angesprochenen Mängel sollte man dennoch dankbar sein, dass dieses Kleinod dem geneigten Konsumenten hierzulande überhaupt zugänglich gemacht wird. Da der Preis der Scheibe wirklich niemanden in den Ruin stürzt, sollte zumindest jeder Freund des ostasiatischen Kinos entschlossen zugreifen. Der Film lief übrigens in den Jahren 1999-2002 auf einigen seriösen Sendern und auf VOX unter dem Titel „Der Koch und die Killerin" im TV. Das Warten auf eine eventuelle Wiederausstrahlung könnte allerdings lang und fruchtlos sein.
9 von 10 Punkten.