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Der Arbeiterjunge Colin Smith (Tom Courtenay) vertreibt sich seine Zeit mit Gelegenheitsgaunereien und anderen, kleineren Delikten. Zusammen mit seinem Freund Mike (James Bolam) knackt er Autos oder versucht Mädchen aufzureißen. Nach dem Tod seines Vaters verliert er jede Perspektive, das einzige, was er weiß ist, dass er nicht auf dieselbe Weise enden möchte wie dieser, als abgeschuffteter Stahlwerksarbeiter. Kurz darauf bricht Colin in eine Bäckerei ein, wird dabei allerdings erwischt und kommt in die Erziehungsanstalt Ruxton Tower. Seine Begabung zum Langstreckenlauf fällt dem Direktor (Michael Redgrave) schnell auf und er möchte, dass Colin an einem Wettkampf gegen eine öffentliche Schule teilnimmt und der Anstalt einen Sieg beschert.

Regisseur Tony Richardson gilt als einer der Begründer der britischen New Cinema Bewegung und greift in seinem Film Elemente wieder auf, die zuvor bereits in „Bitterer Honig“ Anwendung fanden. Die rebellische Hauptfigur, die sich gegen jede Form von Autorität stellt und ohne wirkliches Ziel durchs Leben streift, ähnelt den Antihelden der britischen Nachkriegsliteratur deutlich. Colin Smith (hier wurde extra ein typisch englischer Name gewählt, um den allegorischen Charakter der Handlung zu verstärken) stellt sich gegen das Establishment und die bestehende Ordnung in seinem Land. Das Erziehungsheim ist quasi der Mikrokosmos, der die Zustände für eine ganze Generation von jungen Leuten darstellt, die nach dem rapiden Zerfall der britischen Stahl- und Kohleindustrie ohne Existenzgrundlage ihr Leben bestreiten müssen und nicht in das Bild vom gesetzestreuen und regelkonformen Bürger passen wollen. Drehbuchautor (und auch Verfasser der Romanvorlage) Alan Sillitoe verarbeitet hier seine eigenen Erfahrungen als Arbeiterkind aus Nottingham.
Neben diesen inhaltlichen/ideologischen Ähnlichkeiten zur französischen Nouvelle Vague bedient sich Richardson einiger Mittel seiner Vorbilder vom Festland. So gibt es beschleunigte Aufnahmen wie in Francois Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ und einige Jumpcuts, ähnlich denen in Jean-Luc Godards „Außer Atem“.
Auch das Erzählen einer eigentlichen sehr ernsten Geschichte mit heiter wirkenden, humorvollen Szenen scheint an Truffauts Erzählweise angelehnt und bildet einen starken Kontrast zur ansonsten vorherrschenden Kälte und Härte, mit der Colin konfrontiert wird. Desweiteren benutzt der Regisseur für die damalige Zeit eher untypische Stilmittel, z.B. wenn Colins Mutter die Lebensversicherung ihres Mannes beim Einkaufen verschleudert und das ganze dann wie ein kitschiger 60er-Jahre Werbespot wirkt.

Colins Werdegang wird während seines Aufenthalts im Erziehungsheim in Rückblenden erzählt. Dadurch wird von vornherein das unabwendbare Ende der Geschichte deutlich und der zentrale, erzählerische Aspekt liegt auf der Enge, die den Jungen umgibt. Im Heim soll er von Regierungsbeauftragten durch Arbeit und psychologische Betreuung wieder zu einem funktionierenden Teil der leistungsorientierten Gesellschaft umgeformt werden. Um die Scheinheiligkeit und falsche Moral, die vor allem der Direktor verkörpert, darzustellen, bedient sich Richardson einiger typisch britischer Elemente. Während die Heiminsassen zusammen die bekannte englische Hymne „Jerusalem“ (die von einem britischen Reich ohne Sünden und Gewalt berichtet) singen, sehen wir Szenen in denen gerade ein entflohener Sträfling wieder eingefangen und anschließend von den Wärtern geschlagen wird. Das Lied wird ganz zum Schluss ein zweites Mal aus dem Off ertönen, wenn die Insassen dabei sind ihre Zwangsarbeit zu verrichten.

Auf diese Weise wird für damalige Verhältnisse harsche Kritik an der bestehenden Ordnung deutlich, der Colin soviel Misstrauen gegenüber bringt. Der einzige Ausdruck seines Freiheitsdrangs ist für ihn das Laufen. Schon zu Beginn des Films stellt er in einem Monolog fest „Es ist schwer zu verstehen, aber ich glaube, man muss immer laufen, das ganze Leben lang“. Dabei ist es egal, ob er vor der Polizei davon läuft oder Konflikten aus dem Weg geht, letztendlich kämpft Colin immer gegen sich selbst. Diese Darstellung des adoleszenten, rebellischen Jungen aus der Arbeiterschicht hat folgende Film- und Romanfiguren deutlich beeinflusst. Das einzige Interesse, das der Direktor an ihm hat ist dementsprechend auch seine Laufstärke und die damit verbundene Aussicht auf einen Prestigegewinn für Ruxton Tower. Das Laufen wird so zu Colins einzigem Druckmittel im Kampf gegen die herrschende Klasse, denn es ist das einzige, was ihn für sie nicht vollkommen austauschbar macht. Dieses Verhältnis führt zur bekanntesten Szene des Films, dem großen Finale des Wettkampfes zwischen Colin und seinem Konkurrenten aus der Eliteschule.

Die schauspielerische Leistung der Hauptakteure ist durchweg als ausgezeichnet zu beschreiben. Tom Courtenay wirkt für seine Rolle als Colin zuerst vielleicht etwas zu alt, allerdings unterstreicht dies den Eindruck eines bereits vom Leben gezeichneten Jugendlichen. Sein Konterpart, der Direktor der Erziehungsanstalt, wird von der englischen Schauspiellegende Michael Redgrave souverän und überzeugend dargestellt, er ist die entscheidende Figur für den sozialkritischen Aspekt der Geschichte und trägt diese Rolle gekonnt. Hier sei nebenbei empfohlen, die Originalfassung des Films zu sehen, in der die eklatanten Unterschiede zwischen Colin und dem Direktor bereits in ihrer Sprache deutlich werden (britischer Arbeiterslang – hochgestochenes Oxford-Englisch). Kameramann Walter Lassally fängt die freien Felder während Colins Querfeldeinläufen genauso gekonnt ein, wie die klaustrophobische Enge in Ruxton Tower. Geschickt inszenierte und geschnittene Szenen mit passender Musikuntermalung (beispielsweise der Aufstand im Essenssaal, der in folgenden Gefängnisfilmen so oft wieder aufgegriffen wurde, dass er beinahe klischeehaft wirkt) tun ihr übriges und machen den Film zu einem der bedeutendsten britischen Beiträge der 60er-Jahre. Allerdings einer, der oft übersehen wird im großen Schatten seiner französischen Pendants oder auch eines Ken Loach.

Ein Filmhistoriker hat einmal geschrieben, dass Richardsons Film sicherlich einer der ganz großen Klassiker des europäischen Films wäre, wenn Francois Truffaut ihn inszeniert hätte. Diese Meinung teile ich generell, obwohl man sagen muss, dass das englische Free Cinema eben immer nur eine Art Plagiat der Nouvelle Vague bleiben wird. Sicherlich mit vielen neuen Elementen und angepasster Aussage, allerdings ohne die kontroverse Sprengkraft, die aus der Pioniersarbeit der französischen Bewegung für die gesamte Filmwelt resultierte. Auf diese Weise bleibt „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“ so etwas wie ein ungeschliffener Diamant in der großartigen europäischen Filmlandschaft der 60er-Jahre.

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