Kannst Du ein Instrument spielen? Viele spielen ein Instrument, aber deswegen wirklich spielen können - das ist ein Unterschied. Eine Unterschied, den Dr. Hannibal Lecter als passionierter Ästhet und kultiviert gebildete Persönlichkeit sofort heraushört. In der Philharmonie sitzt er als Kurator mit im Publikum und lauscht Mendelssohns "Sommernachtstraum", dirigiert von Lalo Schifrin, dessen Genuß durch die Mißtöne eines minderbegabten Flötisten im Scherzo jedoch erheblich gestört wird. Dr. Lecter ist jedoch nicht nur Kurator der Philharmonie, sondern im Hauptberuf einer der führenden Psychologen des Landes und wird gerne um Rat gefragt, wenn die Polizei in schwierigen Fällen nicht weiter weiß. Lecter hilft den Profilern des FBI Persönlichkeitsstrukturen der Täter zu analysieren, so auch Will Graham. Dieser ist nämlich einem Serienmörder auf der Spur, der Leichenteile zurückhält. Immer fehlt an den Leichen ein Stückchen Fleisch oder ein Organ.
Zurück zu unserem Konzert: Nach der Vorführung lädt Dr. Lecter die honorige Runde auf ein leckeres selbst gezaubertes Mahl ein. Auf die Frage "was haben Sie wieder für ein köstliches Amusebouche gezaubert?" antwortet er jedoch geheimnisvoll: "Wenn ich es Ihnen sage, würden Sie es vielleicht nicht kosten, fürchte ich". Das ist ganz wie beim Metzger und seinem alten Wurstwitz: "Wenn das rauskommt was da reinkommt, komm' ich wo rein wo ich nie mehr rauskomm".
Als Will Graham das nächste Mal Dr. Lecter aufsucht um mit ihm den aktuellen Fall gemeinsam zu besprechen, hat er längst herausgefunden, daß der gesuchte Mörder ein Kannibale ist und wundert sich, daß Lecter nicht selbst da drauf gekommen ist. Als er auch noch ein Kochbuch bei Lecter entdeckt, wo genau jene Stelle eines Rezepts zu just dem fehlenden Leichenteil des letzten Opfers markiert ist, beginnt Graham zu begreifen. Doch Lecter ist schneller und will jetzt Graham verspeisen.
Ein netter Opener, der die folgenden Handlungen und Geschichten um unseren Freund Hannibal erklärt. "Roter Drache" ist der vierte Film über Hannibal Lecter und es ist das erste Remake innerhalb der Serie, denn Brett Ratner begnügt sich über weite Strecken mit einer treuen Wiederholung von Michael Manns "Manhunter". Anthony Hopkins macht den wichtigsten Unterschied: Er war 1986 noch nicht dabei, damals spielte Brian Cox den inhaftierten Kannibalen, der intuitiven Kontakt zu den Serienmördern des Landes hält. Weil aber erst Jonathan Demmes "Das Schweigen der Lämmer" (1991) den Kult um Freund Hannibal begründet hat, während Ridley Scott mit "Hannibal" (2001) schon wieder dessen Ende andeutete, erscheint Michael Manns schlanker, kühler Thriller plötzlich ungenügend. Sein kulturelles Ziel lag zu niedrig, nämlich innerhalb der Genregrenzen des amerikanischen Kriminalfilms.
In "Roter Drache" erscheint Hannibal Lecter als unbewegter Beweger. Er sitzt im Gefängnis fest und wirkt durch zwei Medien nach außen. Das positive Medium ist der Ermittler Will Graham (Edward Norton), der Lecter in einem Kampf auf Leben und Tod so nahe gekommen war wie niemand zuvor und nun eine neue Mordserie aufzuklären hat. Das negative Medium ist der Killer, dessen Spur Graham aufnimmt, indem er Lecter konsultiert. Francis Dolarhyde (Ralph Fiennes) mordet aus ähnlichen Motiven wie sein Vorbild: Das Trauma ist durch eine maßlose Inszenierung verdeckt; der Mord wird zur ästhetischen Tat. Der rote Drache stammt aus dem Bilderinventar von William Blake - Dolarhyde trägt ihn als Tätowierung auf dem Leib.
Der Bote zwischen den Welten ist ein Sensationsjournalist. Freddy Lounds (Philip Seymour Hoffman) kennt keine Moral, weil er die Auflage seiner Zeitung kennt. Im "National Tattler" erscheinen Enthüllungen über das private Leben der Polizisten, aber auch geheime Botschaften, mit denen das nächste Opfer benannt wird. Das grauenhafte Schicksal, das Lounds ereilt, ist zugleich der lustvollste Moment des Films, weil die merkwürdigen Identifikationsprozesse hier an Eindeutigkeit gewinnen. Der Journalist erhält seine verdiente Strafe, indem er selbst zu einer Nachricht umfunktioniert wird.
"Roter Drache" greift die chronologisch zwar folgenden aber bereits existierenden Momente aus "Schweigen der Lämmer" perfekt auf und fügt sich harmonisch in die Trilogie ein. Seien es nun die Schriften, die den Ort der Handlung angeben (z. B. "FBI Hauptquartier, Washington DC"), die genau so gestaltet sind (weiße, unterstrichene Schrift); oder die Szene in der Graham zu Lecters Zelle geht (diese ist sogar identisch mit der Szene in "Schweigen der Lämmer", wenn Clarice auf die Zelle zuschreitet); oder die in Lecters Büro aufgespießten Käfer, die später eine Rolle spielen werden. Auch die Bilder in Lecters Zelle sind dieselben. Die Tatsache, daß neben Hopkins noch zwei Darsteller in beiden Filmen die gleiche Rollen spielen, nämlich Anthony Heald als Dr. Chilton (Gefängnisdirektor) und Frankie Faison als Barney (Gefängniswächter, eine Minirolle) verstärken natürlich das Gefühl etwas Vertrautes zu sehen.
"Roter Drache" ist ein gelungenes Remake und macht Appetit auf die folgenden beiden Sequels. Doch Vorsicht, falls Du ein Instrument spielst. Dann sollte der Film eine Lehre sein: spiele wirklich gut, oder gar nicht. Oder hoffe, daß Dir nie ein Kannibale zuhört.
(10/10)