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Jorge Brum do Canto hat einen Großteil seines Leben dem Kino gewidmet: bereits im Kindesalter vom Kino fasziniert, versuchte er sich mit neunjährig an einer ersten Filmkritik und trat mit 15 Jahren (in "O Desconhecido" (1925)) als Schauspieler auf. "A Dança dos Paroxismos" war dann das Regiedebut des damals 19jährigen, der noch 1984 auf dem Regiestuhl Platz nahm. Zugleich wird "A Dança dos Paroxismos" auch als der einzige avantgardistische Stummfilm Portugals bezeichnet.[1] Dass do Cantos späteren Filme, unter denen das - immerhin ein paar superb in Szene gesetzte Momente aufweisende - Spielfilmdebut "A Canção da Terra" (1938) noch als bester Beitrag gilt, weit weniger eigenwillig ausgefallen sind, dürfte erklären, dass Film & Filmemacher relativ unbekannt geblieben sind; zumal "A Dança dos Paroxismos" nach der Uraufführung im kleinen Kreise erst wieder 1984 im Rahmen eine Retrospektive gezeigt worden war. Den Status eines portugiesischen Avantgarde-Klassikers konnte sich der Film also erst in den letzten 30 Jahren erarbeiten.

Dem Film liegt das Gedicht Les Elfes aus den Poèmes barbares (1862-1878) Leconte de Lisles zugrunde, der hierzulande - aufgrund der raren Übersetzungen und Veröffentlichungen - beinahe ebenso unbekannt ist. De Lisle, einst politisch engagiert, später desillusioniert und einzig auf die schöne Form konzentriert, gilt mit seinem intellektualisierten Interesse am l'art pour l'art als Vorläufer der décadence. Etwas unterkühlt und höchst formalistisch hat er in den Poèmes barbares verschiedene Mythen und Legenden aus den unterschiedlichsten Ländern und Zeiten verarbeitet, wobei Les Elfes zu den zugänglicheren Werken zählt.
Diese auf Vorbildern skandinavischer Folklore beruhende Darstellung des Sterbens zweier Liebender aufgrund des Einwirkens der Königin der Elfen, kommt mit dem festen Reimschema und dem regelmäßig wiederkehrenden Refrain mit einem einprägsamen Rhythmus daher; und Rhythmus ist es in erster Linie, den do Canto in seinem Regiedebut spielerisch zu entfalten gedenkt, wobei er recht frei mit seiner Vorlage umgeht.

Als reisender Ritter Gonthramm zieht do Canto in der Hauptrolle durchs Land, um [Achtung: Spoiler!] möglichst bald zu seiner künftigen Braut zu gelangen, für die er vergeblich den Heiligen Gral gesucht hat, um ihn als Verlobungsgeschenk überreichen zu können. Unterschlupf gewähren ihm zwischendurch einfache Leute, die ihn zugleich vor der Königin der Sylphen warnen, die im Elfland hause. Doch Gonthramm zieht - eher neugierig gemacht als gewarnt - eilig weiter, trifft freilich auf die Elfen und ihre Königin, verfällt ihnen und lässt sich schließlich von der Königin an sein Herz fassen, woraufhin die Braut in der Ferne stirbt; nach dem ganzen Spuk reist Gonthramm weiter, als ihm der Geist der frisch Dahingeschiedenen erscheint, woraufhin auch er vor Trauer tot zusammenbricht.
Die Inszenierung ist - nicht zuletzt wegen der vielen Zwischentitel - stellenweise ein bisschen behäbig, aber meist überwiegt die ungehemmte Rasanz. Gleich in den ersten Einstellungen präsentiert die Kamera die Umwelt als einzigen Taumel: ein fiebriges Tanzen, das nicht nur der Hauptfigur zum Verhängnis wird, sondern auch Kamera, Montage und Publikum mitreißt. Noch bevor der Vorspann läuft, gesellen sich zu der kurzen Prätitelsequenz Doppelbelichtungen und Negativbilder. Die eigentliche Handlung setzt dann nicht weniger spektakulär ein: die Kamera schwankt dramatisch beim Ritt durch die Landschaft, der Schnitt lässt Reiter und Pferd erst von link, dass von rechts, dann von hinten nach vorne und schließlich von vorne nach hinten durch die Einstellungen hetzen. Beim hektischen Galoppieren in Richtung der Kamera schiebt sich der Kopf des Reiters mal von links unten, mal von rechts unten in das Bild hinein. Der Schnitt setzt auf Kontraste und häufig werden Großaufnahmen aneinandergereiht, die zwar alles nötige erklären, aber über die räumlichen Verhältnisse keinen Aufschluss geben: ein Truthahn gackert, der Held blickt (in extremer Untersicht) über die Kamera hinweg, dann blickt er in extremer Aufsicht, ein Hund kläfft und das Ohr des Helden bekommt eine Nahaufnahme, wenn der Reiter in ein kleines Dorf kommt und sich dort umsieht. Harte Schnitte (und sogar regelrechte jump cuts) dominieren den Film. In der Folge wird do Cantos komplexe split screen-Einstellungen liefern, mehrfach Doppel- & Dreifachbelichtungen präsentieren, Bilder auf den Kopf stellen, und zudem die Kamera taumeln und in extrem geringer Distanz an den Körpern der Akteure vorbeifließen lassen.
Das mag manchmal ein etwas unsicheres Experimentieren sein, aber wenn bei der Verführung durch die panflötenden Sylphen, Kamera, Held und die Sylphen selbst melodisch wiegen und schwanken und taumeln (und dem Titel seine Rechtfertigung verpassen), dann ist das durchaus recht zielgerichtet. Neben phantasievollen split screen-Einblicken in ein - kostengünstig umgegesetztes - (Miniatur-)Unterwasserreich der Sylphenkönigin gehören noch einige rückwärts ablaufende Einstellungen fallenden Laubes zu den hübschen Effekten des Films.

Als adäquate Umsetzung des strengen Stilwillens de Lisles kann man den Film beim besten Willen nicht bezeichnen; "A Dança dos Paroxismos" will eher dem eigenen Titel gerecht werden und versucht sich experimentierfreudig an allerlei Effekten, die letztlich weniger dem Rhythmusgefühl der Vorlage, als vielmehr der (französischen) Avantgarde der 20er Jahre nacheifern.
Dass der Film Marcel L'Herbier gewidmet ist, unterstreicht diesen Einfluss überdeutlich. Aber auch der frühe René Clair dürfte hier mit seinem "Entracte" (1924) Pate stehen - und ebenso Abel Gance mit seiner in "La roue" (1923) praktizierten Stakkato-Montage, die bei do Canto mild anklingt. Und die in C. Th. Dreyers "La passion de Jeanne d'Arc" (1928) zu beobachtende Mischung aus zigfachen Großaufnahmen von Gesichtern einerseits und einer gegen Ende teilweise völlig entfesselten Kamera andererseits, mag ebenfalls nicht ohne Einfluss auf do Canto geblieben sein.[2]
Bisweilen mutet dieses experimentelle Werk auch etwas unausgereift an: die Kombination von Erinnerungsbildern am Schluss (wenn dem Helden das Schicksal dämmert), kommt träge und etwas kraftlos daher. Aber einem Regieneuling mag man das verzeihen; als Darsteller überzeugt do Cantos, der auch für den Schnitt zuständig war, ebenfalls größtenteils, was aber weniger am Spiel selbst liegt, das (bewusst?) kaum nuanciert daherkommt, sondern eher am Charisma des stets etwas geistesabwesend dahinstarrenden, schmächtigen Schönlings.

Sicherlich nicht die ganz große Offenbarung des Avantgarde-Films der 20er Jahre, aber als Debutfilm (eines 19jährigen) und Ausnahmeerscheinung im portugiesischen Filmbetrieb eine angenehme Überraschung. 7/10


1.) Vgl. Alcides Murtinheira, Igor Metzeltin: Geschichte des portugiesischen Kinos. Praesens 2010; S. 38.
2.) Am Rande sei noch erwähnt, dass nicht allein die Form mit den Konventionen spielt: wenn zu Beginn des Films die Tochter einer Bäuerin zum Unwillen der Mutter über 6 Einstellungen und 20 Sekunden hinweg den Inhalt ihrer Nase in den Mund befördert, dann ist das durchaus ein kleiner, unverschämter Tabubruch, der einzig durch das Alter, die kindliche Unschuld trotzdem keinerlei Empörung hätte auslösen können (wäre der Film den in den 55 Jahren nach seiner Uraufführung nochmals vorgeführt worden).

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