Zuerst haben ambitionierte Filmemacher ein halbes Jahrhundert darum gekämpft, Realismus in Filmen zur Selbstverständlichkeit zu erheben und dann, nicht unbedingt von Erfolg gekrönt, weitere 50 Jahre mit den Vorzügen der Stilisierung und den Möglichkeiten zur Stilisierung des Realismus als solchem. Denn wenn Realismus nicht aus schlichtem Zeigen bestehen soll, wenn er die gedankliche Erweiterung des Zuschauerhirns wunscht und nicht nur dessen Zurkenntnisnahme des Gezeigten, dann muss die Realität doch gezielt eingefasst, ausgeschnitten, modelliert, kadriert werden. Gerade hierum hat sich das Genre-Kino der 60iger und 70iger Jahre weltweit verdient gemacht, mal aus zur Tugend erhobenen Not, mal als künstlerische Entscheidung, bzw. um mit dem Zeitgeist zu gehen. "Mannen på taket" ist so ein Film, laut Regisseur Widerberg stark von THE FRENCH CONNECTION beeinflusst – und trotzdem sehr europäisch, sehr schwedisch. Während im Weltkino der Teufel los war und sich vor allem die B-Filmer gegenseitig ständig zu übertreffen suchten im Bizarren, musste man in Schweden für Genre-Filme kämpfen, insbesondere für moderne, neuartige Wege – die alten sahen schlussendlich nicht sonderlich individuell oder fantasiereich aus, so manierlich sie sich auch gaben wie beispielsweise die Kriminalfilme von Arne Mattson.
Widerberg filmt und vor allem schneidet so, dass der Blick und das Ohr des Zuschauers meist beiläufig und nie aufdringlich auf alltägliche Oberflächenreize, die, durch das filmische Auge betrachtet, konzentriert werden, auf kleine Details, die den großen Unterschied ausmachen. Und teilweise verliert sich die Kamera auch ganz einfach in den herben Gesichtszügen des unendlich charismatischen und seine Figur bemerkenswert elusiv gebenden Hauptdarstellers Carl-Gustaf Lindstedt. Das ist es im besonderen, was man sehr schnell feststellt beim Sehen dieses Films: Die drei- und später vierstirnige Figurenkonstellation ist absolut klassisch, doch das typische Comic Relief aus amerikanischen Pendants fällt ebenso angenehm durch Absenz auf wie der ätherische Mundgeruch, den die Drehbuchautoren deutscher TV-Krimiserien ihrer sich stets authentisch gebendem aber fast immer in höchstem Maße affektiert wirkenden Arbeit miteinblasen. Widerberg führt uns hier zurück zu der ursprünglichen Idee hinter diesen dramaturgischen Klischees und zeigt den kurzen Schimmer eines Lächelns auf dem abgespannten Gesicht von Beck anstatt eines ironischen Schmunzelns. Die kinematische Oberflache des Films ist ebenso artifiziell wie wirklich - die Kaffeeflecken auf dem Schreibtisch im Präsidium, die weniger skandalös und sensationell sondern eher wie eine gewöhnliche Sauerei anmutende Blutlache auf dem Krankenhaus-Boden, der durch den Nachwuchs vereitelte Samstagmorgen-Sex von Lindstedts jungem Kollegen, alles gefilmt in natuerlichem Licht, beinahe ausschliesslich mit Handkamera - es ist die Kadrierung und die Montage, die all das stilisiert, abstrahiert und auf eine mystisch-sinnliche Ebene hebt.
Wie gekonnt und unprätentiös "Mannen på taket" ist, lässt sich aber tatsächlich noch viel einfacher beschreiben: Wenn der Film offener als offen endet, mit einer Einstellung und einem Moment, der einem als vom nervenaufreibenden Showdown elektrisierten Zuschauer ein unwillkürliches Fluchen entlockt, dann erweckt das hier nicht im entferntesten den Anschein von bemühtem Verstoß gegen die Erwartungshaltung, Transgression von Genre-Konventionen oder ähnlichem sondern ist absolut selbstverständlich. Aber natürlich sehr gewählt, weil die Endmarke, direkt wie sie nach der Lösung des wesentlichen „Konflikts“ gesetzt ist, unser Verhältnis zu den Figuren äußerst effektiv hinterfragt, bzw. uns zur Hinterfragung desselbigen antreibt, am Ende des Films, nicht fruher. Und all das ist schon eine ganze Menge - ohne das man sich je belästigt fühlen würde von dem sich besonders gewitzt vorkommenden Regisseur, der seinem Film stets den Vortritt lässt vor sich selbst. Ich muss mehr Filme von Bo Widerberg sehen. So schnell wie möglich.
(Spontaner Nachgedanke am Rande: Offenbar hat Widerberg nie einen Horrorfilm gedreht. Das ist sehr, sehr schade – denn die Eröffnungssequenz von "Mannen på taket" ist eine der bösartigsten, intensivsten und am gekonntesten inszenierten Horrorszenen, die mich bisher zum Schwitzen gebracht haben.)