Lange ist es her, dass die normannisch überformten und damit fremdsprachig beherrschten Briten erstmals ihre Hände nach Irland ausstreckten. So ungefähr 850 Jahre. 1169 nämlich setzte Heinrich II., der Vater des ungleich berühmteren Richard Löwenherz, über den schmalen Kanal und machte sich daran, die grüne Insel zu unterwerfen. Und als dann, vier Jahrhunderte später, in der Ulster Plantation, ab 1606, Teile des Landes von Protestanten geradezu überschwemmt wurden, entwickelte sich der Streit um Nordirland zu einem Dauerkonflikt, dessen Folgen noch heute in Form unschöner Zäune (euphemistisch „Friedenslinien" genannt) und konfessionell getrennter Schulen deutlich sichtbar sind. Nahezu zwei Drittel der Bewohner Belfasts wachsen im Jahr 2015 in, was das christliche Bekenntnis angeht, homogenen Stadtteilen auf. Ein merkwürdiger Anachronismus in einem westlichen Land.
Der Nordirlandkonflikt stellt also immer noch ein Politikum dar, weshalb er filmisch besser mit Samthandschuhen und ganz behutsam in die Hand genommen werden sollte. Das hat auch „Deadset"-Regisseur Yann Demange erkannt. Der gebürtige Franzose ergreift nicht Partei und schildert das Drama um die auflodernden Spannungen in der nordirischen Hauptstadt, ein Jahr vor dem berühmten, von der Popband U2 besungenen „Bloody Sunday" des Jahres 1972, fesselnd, aber nicht reißerisch. Und selbst wenn er gegenüber den Scharfmachern beider Seiten Klage erhebt, bleibt er angemessen sachlich und verteilt den Vorwurf in diesem Fall vernünftigerweise gleichmäßig.
Der Blickwinkel der Geschichte ist freilich ein englischer. Denn Hauptdarsteller Jack O'Connell spielt den britischen Soldaten Gary, der mit seiner unerfahrenen Einheit junger Rekruten in die Straßen der brodelnden, mit Mauern durchzogenen Stadt geschickt wird, um für Ruhe zu sorgen. Doch das Bemühen um Deeskalation verpufft, weil sich, wie so oft im Leben, nicht alle Beteiligten wirklich Mühe geben. Und so wird die von seinem Zug bemannte Straßensperre vorzeitig abgebrochen und in einem Hagel von Steinen der Rückzug angetreten. Allerdings ohne Gary, denn der wurde im Menschengewimmel von seinen Kameraden getrennt und ist nun in einem feindlichen Stadtviertel auf sich allein gestellt. Eine Gruppe irischer Nationalisten, die bereits einen zweiten versehentlich zurückgelassenen Rekruten vor seinen Augen kaltblütig ermordeten, beginnen damit, erbarmungslos Jagd auf den jungen Mann zu machen, der orientierungslos von Hinterhof zu Hinterhof stolpert und dessen Leben nun an einem seidenen Faden hängt.
Zwar ist „'71 - Hinter feindlichen Linien" zuvorderst ein Thriller mit Survival-Thematik, dessen Dreh- und Angelpunkt der sympathisch unerfahrene Soldat Gary ist, doch wird eindringlich und kunstvoll das Lokal- und Zeitkolorit der Epoche als informativer Hintergrund genutzt. Die große Politik allerdings findet wenig Beachtung und blitzt nur sehr sporadisch hier und da auf, was den didaktischen Nährwert des Films schmälert, wenn auch nicht vollkommen vernachlässigbar macht. Es sind die kleinen Leute, die Betroffenen selbst, die hier ihre oft vernachlässigte Redezeit bekommen und in deren Lage wir gezwungen werden uns hineinzuversetzen.
„'71 - Hinter feindlichen Linien" ist in erster Linie ein spannungsgeladener Film und weniger politischer Kommentar. Wenn man allerdings dringend einen praktischen Bezug zu den damaligen Ereignissen herstellen möchte, der mehr bietet als reines Thrillerfeeling, dann darf man durchaus ein Plädoyer für Mut und Zivilcourage aus der Story herauslesen und auch gerne den Hinweis entdecken, dass Loyalität und ein reines Gewissen bisweilen zwei schwer auszubalancierende Ansprüche darstellen. Sind unschuldige Bauernopfer im Dienste einer gerechten - also der eigenen - Sache im Falle eines Falles akzeptabel? Und ist der einem gegenüber stehende Mensch in der Uniform der Unterdrücker eher Mensch oder eher Unterdrücker?
Dieser englische Film zum Thema heimischer Vergangenheitsbewältigung ist trotz seiner nachdrücklich herausgearbeiteten Unparteilichkeit insgesamt durchaus als ein couragierter Beitrag zu werten, denn die zum Schluss die Tatsachen verdrehenden Strippenzieher sind, und das verdient Beachtung, Engländer. Zudem ist der Stoff von Yann Demange ein kurzweilig erzählter und fesselnd inszenierter Trip in eine bewegte, wenig ansprechende Zeit, deren Hintergründe der Mehrzahl der Festlandseuropäer heute wie damals vermutlich eher unbekannt sind. Daran ändert zwar auch „'71 - Hinter feindlichen Linien" nichts, doch werden wir immerhin aufmerksam gemacht auf einen Konflikt, der noch heute Zeugnis ablegt für historisch bedingten, über Jahrhunderte genährten Hass kulturell kaum zu unterscheidender Bevölkerungsgruppen aufeinander. Und das mitten in Europa.