„Ich bin ja nicht von gestern!“
Der schwarzhumorige Roman „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ aus der Feder des schwedischen Schriftstellers Jonas Jonasson ist ein in zahlreiche Sprachen übersetzter Bestseller, den der schwedische Filmemacher Felix Herngren („Solsidan“) für seine erst dritte Spielfilm-Inszenierung verfilmte. Die schwedisch-französisch-britisch-russisch-spanisch (uff…) koproduzierte alternativgeschichtliche Road-Movie-Komödie kam im Jahre 2013 in die Kinos.
„Tot zu sein kann manchmal auch Vorteile haben.“
Allan Karlsson (Robert Gustafsson, „Verschwörung im Berlin-Express“) könnte seinen 100. Geburtstag entspannt im Altersheim feiern, verspürt darauf aber so gar keine Lust, klettert aus dem Fenster und kauft vom letzten Geld eine Busfahrkarte ins nächstbeste Kaff: Byringe. Durch Zufall gelangt er dabei an einen Koffer, prall gefüllt mit 50 Millionen Kronen Gangsterbeute. Hinter diesem sind Gangsterboss Pims (Alan Ford, „Snatch – Schweine und Diamanten“) Männer fortan her, doch zusammen mit dem berenteten Bahnwärter Julius (Iwar Wiklander, „Simon“) erwehrt sich Allan des glatzköpfigen Schlägers Bulten (Simon Säppenen) und sperrt ihn in Julius‘ Gefrierkammer, wodurch er versehentlich stirbt. Auf ihrer Flucht tun sie sich mit Langzeitstudent Benny (David Wiberg, „Grotesco“) zusammen, der sie chauffiert und dem Zugriff Pims zu entziehen versucht. Im Zuge dieser aufregenden Reise erinnert sich Allan an die zahlreichen Stationen seines Lebens, in denen er auf einige zeitgeschichtliche Prominenz traf…
Der Film eröffnet damit, dass ein Fuchs Allans Katze reißt, den der Senior-Sprengstoffexperte daraufhin kurzerhand in die Luft jagt. Nachdem sich die Ereignisse in der Gegenwart seit Allans Flucht aus dem Seniorenstift überschlagen haben, stimmt eine irre Collage aus Erinnerungen, in denen er angeschrien wurde, auf die zahlreichen Rückblenden ein, die fortan den Film mehr als die Gegenwartshandlung bestimmen und in denen Allan – zuvor bereits auch als Off-Stimme in Erscheinung getreten – als Voice-over-Erzählinstanz fungiert. Diese beginnen mit seiner Kindheit und führen über seine Jugend ins Erwachsenenalter bis hin zur Öffnung der Berliner Mauer im Jahre 1989. Das Konzept ist grob „Forrest Gump“ entlehnt: Ein unbedarfter Typ mit kindlichem Gemüt und ohne größere Ambitionen tappt von einer zeitgeschichtlichen Situation in die nächste und nimmt die Dinge, wie sie kommen – auch die größten Katastrophen. So trifft er auf den faschistischen spanischen Diktator Franco (Koldo Losado, „Mystikal – Eldyn, der Zauberlehrling“), mit dem er feiert, auf Atombomben-Erfinder Robert Oppenheimer (Philip Rosch, „Misfits“), mit dem er nur kurz plauscht, auf US-Präsident Harry S. Truman (Kerry Shale, „Die Fürchterliche Furcht vor dem Fürchterlichen“), mit dem er sich einen hinter die Binde kippt, auf Albert Einsteins (fiktionalen) zurückgebliebenen Bruder Herbert (David Shackleton, „Another Night“), auf den sowjetischen Schlächter Josef Stalin (Algirdas Paulavicius, „Ekskursante“), mit dem er tanzt, und spielt am Ende auch noch eine entscheidende Rolle im Kalten Krieg zwischen Ronald Reagan (Keith Chanter, „Phantastische Tierwesen – Grindelwalds Verbrechen“) und Michail Gorbatschow (Sigitas Rackys, „Unbeugsam“).
„Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ bekommt dadurch Episodenfilmcharakter, immer wieder unterbrochen von der Road-Movie-Rahmenhandlung, in der neben Gangster Pim nun auch ein tumber Inspektor (Ralph Carlsson, „Der Schlafwandler“) hinter Allan her ist, sich aber auch immer mehr Menschen der skurrilen Reisegruppe anschließen. Die Rückblenden betreiben offensichtliche, zuweilen aber auch etwas subtilere Geschichtsfälschung. Zu letzterem zählt sicherlich, dass Gorbatschow beschlossen hätte, die innerdeutsche Grenze zu öffnen, denn ob nun mit oder ohne Allans unbewusstes Zutun war dies schon noch Egon Krenz‘ Entscheidung. Die hingegen offensichtlich rein für diesen Film erdachten Ereignisse, in denen Allan etwa General Franco das Leben rettet oder Oppenheimer den entscheidenden Hinweis für die Entwicklung der Atombombe gibt, versehen den Film mit einem speziellen, unterschwellig fiesen schwarzen Humor, der Allan weniger sympathisch erscheinen lässt. Im Kontrast dazu stehen seine Flucht aus dem Gulag, seine indirekte Verantwortung für Stalins Tod und seine ein wenig Eurospy karikierende Tätigkeit als Doppelagent im Kalten Krieg. Makaber geht es zu, wenn er versehentlich einen Menschen in die Luft sprengt und dessen Kopf krachend auf der Motorhaube landet. Aber irgendetwas sprengt Allan ständig in die Luft, dies gehört zu seinem Charakter.
Häufig ist der Humor leider schlicht derart übertrieben und albern, dass das Lachen aus eben diesen Gründen schwerfällt. Das Konzept, zwischen einer Gegenwartshandlung und ganz anders gelagerten Rückblenden stetig zu changieren, geht dramaturgisch nicht so ganz auf und irgendwie wirkt „Der Hundertjährige…“, trotz aller technischen und schauspielerischen Finessen, unterm Strich wie eine weit weniger herzliche und etwas bemüht auf schwarzen Humor getrimmte, letztlich schwächere „Forrest Gump“-Variante auf mich, die mit einer dieser eher überflüssigen neuzeitlichen skandinavischen Krimikomödien vermengt wurde. Ich gehöre aber auch zu den anscheinend Wenigen, die das Buch nicht gelesen haben…